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Arfst Wagner

Bin ich stolz, ein Deutscher zu sein?
Kommentar zu einem aktuellen Thema

Johannes Rau hat es richtig gesagt: ich kann im Grunde nur auf das Stolz sein, was ich selbst geleistet habe. „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“. Wer das sagt, der müsste sich eigentlich mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt haben, sich mit ihr identifizieren. Wenn sich der Deutsche mit seiner Geschichte identifiziert,  fragt man sich, inwiefern er in der Lage ist, „stolz“ auf diese Geschichte zu sein. Denn worauf könnte man „stolz“ sein: Auf die Kaiserzeit? Auf die Weimarer Republik? Auf das „Dritte Reich“  und alles das, was damit zusammenhängt? Oder auf die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR? Konnte man als Deutscher bis 1989 stolz auf das geteilte Deutschland sein? Kann man als Deutscher stolz auf das sein, was uns bisher die Wiedervereinigung gebracht hat? Und wenn man es sein könnte, welchen Anteil hat, im Sinne Johannes Raus, der einzelne daran gehabt?

Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass Herman Grimm, der seinerzeit sehr bekannte Kunsthistoriker, vier Geister nannte, zu denen der Deutsche aufschaut, wenn er „gewissermaßen die Richtung seines Lebens empfinden will, und er nennt als diese vier Geister Luther, Friedrich den Großen, Goethe und Bismarck“. (1)

Steiner kommentiert: „Luther lebt eigentlich nicht wesenhaft in den Traditionen deutschen Wesens. Goethe ist im Grunde genommen niemals wirklich lebendig geworden ... und Friedrich der Große und Bismarck gehören einem Werke an, das heute aus der Welt geschafft ist. So dass der Zeitpunkt eingetreten sein würde, wo sich gerade der mitteleuropäische Deutsche, der Deutsche überhaupt, unter den Nationen der Welt ohne Halt und verlassen fühlen müsste.“

Und Rudolf Steiner beendet diese Aussage mit dem erschütternden Satz: „Würde die gegenwärtige Menschheit nicht so oberflächlich sein, so würde in der Tat manches viel tiefer gefühlt werden, als es heute geschieht, wo einem über das Nichtfühlen dessen, was durch die Welt pulsiert, zuweilen das Herz brechen möchte.“ (ebd.)

Vielleicht darf ich hier ein persönliches Erlebnis einflechten: Im Jahre 1984 habe ich in Danzig Verhandlungen über künftige Möglichkeiten der Ausbreitung der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise und der sozialen Dreigliederung in Polen mit Henryk Jankowski, dem Pfarrer der Danziger Brigittenkirche und damaligen Beichtvater von Lech Walesa geführt. Er erklärte mir auf die Frage, was denn eigentlich „Solidarnosc“ (die damalige polnische Gewerkschaftsbewegung) sei: „Solidarnosc ist Polen“. Ich fragte: „Und was ist Polen?“ Antwort von Henryk Jankowski: „Polen, das ist ein Bewusstseinszustand, Pole kann man sein, ohne einen polnischen Pass zu besitzen, ohne in Polen geboren zu sein und ohne polnische Eltern zu haben. Sie zum Beispiel sind ein Pole!“

Was sagt nun Rudolf Steiner zu der Frage, was denn einen Deutschen eigentlich ausmacht?

Er sagt: „.. dieses deutsche Element selbst, das hat nun nicht eine instinktive Anlage zur Entwicklung der Bewusstseinsseele (wie die Briten. A. W.), sondern es hat nur die Anlage, durch die es sich zur Bewusstseinsseele erziehen kann. Während also im Britentum die instinktive Anlage zur Entwicklung der Bewusstseinsseele vorhanden ist, muss der deutsche Mitteleuropäer, wenn er irgendwie die Bewusstseinsseele in sich rege machen will, dazu erzogen werden. Er kann sich das nur erwerben durch Erziehung. Weil das Zeitalter der Bewusstseinsseele eben zugleich das Zeitalter der Intellektualität ist, muss der Deutsche, wenn er irgendwie die Bewusstseinsseele in sich rege machen will, ein intellektueller Mensch werden. Daher hat der Deutsche seine Beziehung zur Bewusstseinsseele vorzugsweise auf dem Wege der Intellektualität, nicht auf dem Wege des Instinktlebens gesucht. Daher haben gewissermaßen die Aufgaben der Deutschen nur diejenigen erreicht, welche in einer gewissen Weise ihre Selbsterziehung in die Hand genommen haben.“ [2]

Man kann also sagen, „Deutscher zu sein“ ist ein ganz bestimmter Bewusstseinszustand und zwar ein Bewusstseinszustand, den man nicht „haben“ kann, sondern den man sich immer wieder erwerben muss. Er hat nichts mit Abstammung, Pass oder ähnlichem zu tun. Er hat ganz sicher etwas mit dem deutschen Idealismus zu tun, der aber heute in Ländern wie Polen möglicherweise bekannter und auch immer noch aktueller ist, als in Deutschland selbst. Rudolf Steiner fasst zusammen: „Der Engländer ist etwas; der Deutsche kann nur etwas werden. Daher ist es so schwierig mit der deutschen Kultur, daher ragen in der deutschen und österreichisch-deutschen Kultur immer nur einzelne Individualitäten heraus, die sich in die Hand genommen haben, während die breite Masse beherrscht sein will... .. Er muss zu dieser Aufgabe erzogen werden. Er muss gewissermaßen berührt werden von dem, was Goethe im „Faust“ zur Gestaltung gebracht hat, vom Werden des Menschen zwischen Geburt und Tod.“ (ebd., S. 149)

Ein Verständnis für Goethe erwartete Steiner allerdings nicht mehr im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts. Erst vom Jahre 2000 an würden Menschen beginnen, Goethe zu verstehen. Wiederum mit einem Hinweis auf Hermann Grimm leitet er eine diesbezügliche Aussage ein: „Hermann Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter des 19. Jahrhunderts hat einen, man möchte sagen, radikal klingenden Ausspruch in bezug auf Goethe getan. Er hat nämlich gesagt, wann erst die Zeit kommen werde, in der die Menschheit das Allerwichtigste bei Goethe richtig einsehen würde. Er hat diesen Zeitpunkt in das Jahr 2000 verlegt. ... Und man kann ja auch, gerade wenn man auf unsere Zeit blickt, nicht die Neigung empfinden, einem solch radikalen Ausspruch zu widersprechen.“ Was sieht nun Rudolf Steiner, gemeinsam mit Herman Grimm, als das Wichtigste bei Goethe an: „Nicht dass Goethe Dichter war, dass er dieses oder jenes einzelne Kunstwerk geschaffen hat, sondern das sieht er (Herman Grimm. A.W.) als das Wichtigste an, dass er alles, was er geschaffen hat, aus dem ganzen vollen Menschen heraus geschaffen hat, dass allen Einzelheiten seines Schaffens die Impulse des vollen Menschentums zugrunde lagen. Und man darf sagen, dass unsere Zeit recht weit entfernt ist von dem Begreifen desjenigen, was zum Beispiel in Goethe lebte als volles Menschentum.“ [3]

„Das Streben nach Individualität“ mache den Mitteleuropäer aus und dieses Streben wiederum verbinde beispielsweise gerade die Polen und die Deutschen, so führte Rudolf Steiner an anderer Stelle aus. Über die Frage: was ist ein Pole und wo liegt Polen schrieb Lech Walesa: „Wir sind gezwungen, uns tagtäglich zu definieren, manchmal sogar mehrmals am Tag.“ Wir sind „ständig auf der Suche nach wichtigeren Werten, nach universellen Werten. Wir knüpfen an unsere Wurzeln an, die aus unserem Glauben erwachsen. Wir kehren zurück zu den Quellen von Gut und Böse. Wir gelangen immer mehr zur Reife.“[4]


„Deutscher“ kann man nicht sein, man kann es immer nur werden. Und dieses Werden macht nicht nur den Deutschen, sondern schlichtweg den Mitteleuropäer aus. Unter diesen Gedanken kommt einem der Satz: „ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, in mancher Hinsicht makaber vor. Und die „dümmste Debatte der Saison“ (Süddeutsche Zeitung) könnte durchaus zu tieferen Gedanken führen, während die „breite Masse ... sich gar nicht mit den Gedanken befassen will“. (GA 186, Seite 149). Die SZ fragt, „woher es denn nur kommen mag, dass auch zu Beginn des dritten Jahrtausends offenbar ein derart großes Bedürfnis nach Nationalrausch im Lande besteht, dass man damit sogar Auflage zu machen und Wahlkämpfe zu gewinnen hofft.“ Und sie verweist im Zusammenhang mit dem Begriff Stolz auf dessen etymologische Herkunft: „Müsste das Volk nicht von den Etymologen darüber aufgeklärt werden, dass der Stolz von Stelze kommt, auf der man versucht, über den Köpfen anderer Leute herum zu stolzieren, so lange, bis einem die Beine weg geschlagen werden?“

„Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ sagt der, der seine geistige Orientierung verloren hat, es sagt der, der Furcht hat, Furcht vor dem Kommenden. Und der natürlich nicht in der Lage ist, es sich einzugestehen. Goethe klopft im 21. Jahrhundert an die Tür. Öffnen wir ihm!

Mit Hautfarbe oder irgendwelchen biologischen Abstammungen hat die Fragte, deutsch oder nicht deutsch, jedenfalls überhaupt nichts zu tun. Sagen wir es, indem wir die Worte von Henryk Jankowski über die Polen ein wenig abändern: „Deutschland, das ist ein Bewusstseinszustand, Deutscher kann man sein, ohne einen deutschen Pass zu besitzen, ohne in Deutschland geboren zu sein und ohne deutsche Eltern zu haben."

Literatur und Hinweise:

(1)   Rudolf Steiner: Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. GA 188. Dornach 1967. Vortrag v. 24.01.19. Seite 144 f.

(2)   Rudolf Steiner: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. GA 186. Dornach 1979. Vortrag vom 08.12.1918. Seite 147 f.

(3)   Rudolf Steiner: Das Wesen der Farben. GA 291. Dornach 1991. Vortrag vom 26.07.01.

(4)   zit. nach: Arfst Wagner: Polen, Deutschland und die Frage nach der mitteleuropäischen Identität. In: Stefan Lubienski/ Oskar Popp/ Arfst Wagner/ Walter Kühne: Die polnische Volksseele und die Anthroposophie. Rendsburg 1991. Seite 45.