Arfst Wagner

Sokrates und die Waldorfpädagogik

Die ehemals blühende Stadt Athen war durch mehrere Kriege schwer angeschlagen. Schuld daran, so meinten die Athener, war Sokrates, der Philosoph, der sich in die Politik einmischte. Hintergrund war allerdings Sokrates pädagogische Haltung. Das Orakel von Delphi nannte ihn den weisesten aller Menschen. Doch Sokrates wollte das nicht glauben und gab vor, nichts zu wissen. Schließlich kam er aber zu der Erkenntnis, dass das Orakel doch Recht hatte: Im Gegensatz zu den anderen wisse er jedenfalls, dass er nichts wisse. Doch im Grunde war es die Pädagogik des Sokrates, die ihm zum Verhängnis wurde: Weder Pythagoras noch Plato waren mutig (oder verrückt) genug, die Weisheit auf der Straße zu suchen. Der eine verschloß die Philosophie vor der Außenwelt in einer Geheimbruderschaft, der andere zog sich in die Akademie zurück. Sokrates sucht den Dialog mit der Jugend. Die Jugend, nicht ein Lehrplan eines Kultusministers, bestimmt den Lauf des Gesprächs, aber Sokrates steht immer im Zentrum dieses Abenteuers. Der Amerikaner Theodore Roszak schreibt dazu: Sokrates „verkörpert durch seine bloße Gegenwart die Werte reifer Personalität und macht sie während des Dialogs spürbar. Darin liegt die Kunst der Methode. Nur durch die Grundstimmung, die Sokrates dem Austausch gibt, lehrt er, was er ist, und wenn die Schüler seine Lektion annehmen, begreifen sie sein Vorbild. Am Ende kommt auf der Ebene der Ideen vielleicht keine einzige Übereinstimmung zustande, so dass in diesem Sinne nichts gelehrt worden ist. Aber sie haben gelernt, was Würde, Großherzigkeit und Freiheit sind, und sie wissen, was es heißt, eine Sache unvoreingenommen zu ergründen. Sie werden sie selbst und sind doch für alle Zeiten Sokrates Kinder.“ Bekannt ist von Sokrates auch, daß er der Überzeugung war, dass die Weisheit prinzipiell in jedem Menschen vorhanden ist. So gibt es einen Dialog, in den er einen Sklaven, der nie zuvor Mathematik gelernt hatte, nur durch Fragen dazu brachte, aus sich heraus den pythagoreischen Lehrsatz zu entwickeln. In den pädagogischen Schriften Rudolf Steiners finden sich grundlegende platonische Ansätze. So hielt er Kinder des 20. Jahrhunderts für „götterbelehrt“, die im äußeren Sinn nichts „beigebracht“ bekommen müssen. Der Erzieher hat etwas ganz anderes zu tun: „Man soll sich nicht sagen, du sollst dies oder jenes in die Kinderseele hineingießen, sondern du sollst Ehrfurcht vor seinem Geiste haben. Diesen Geist kannst du nicht entwickeln, er entwickelt sich selber. Dir obliegt es, ihm die Hindernisse seiner Entwicklung hinwegzuräumen, und das an ihn heranzubringen, das ihn veranlaßt, sich zu entwickeln. Du kannst dem Geist die Hindernisse wegräumen im Physischen und auch noch ein wenig im Seelischen. Was der Geist lernen soll, das lernt er dadurch, daß du ihm diese Hindernisse wegnimmst. Der Geist entwickelt sich auch in allerfrühester Jugend schon am Leben. ... Man darf niemals die Kinder zu einem Abbild von sich selbst machen wollen. Es soll in ihnen nicht fortleben in Zwang, in Tyrannei dasjenige, was in dem Erzieher selbst war... .“ Von Sokrates wird erzählt, dass er sich im Unterricht über seine eigenen Überzeugungen lustig machte und den Schüler einlud, ihm beizupflichten. Das geistige Wachstum, das er in den Dialogen hegte, wollte er offenbar nicht überschatten. „Warum kann Hänschen nicht lesen und schreiben?“ ist sicher eine berechtigte Frage. Der platonische Erzieher fragt aber auch: „Weshalb machen wir uns nur darüber Sorgen? Weshalb nicht auch darüber, dass sein Organismus und seine Gefühle ihm so fremd sind, dass er für den Rest seines Lebens (wie die meisten von uns) unter der Bürde dieses Unwissens keuchen wird? Warum nicht darüber, dass sein Körper von erstickter Wut und unterdrückten Begierden beherrscht ist, dass sein Stoffwechsel von miserabler Ernährung und nervösen Spannungen gepeinigt wird, dass sein Traumleben öd und leer ist, seine Phantasie darniederliegt, sein soziales Gewissen unter Egoismus begraben ist?„ Dass Hänschen „nicht mit Angst, Aggression, Neid fertig wird und keine Ausdrucksmöglichkeiten für Vertrauen und Zärtlichkeit hat? Weswegen macht es uns eigentlich so wenig aus, dass Hänschen nicht weiß, wer er ist, und nicht weiß, dass er es nicht weiß?“ Vor einigen Jahren konnte man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einem Leitartikel lesen, daß die heutige Schule zwar dem Lehrauftrag gerecht wird, nicht jedoch dem pädagogischen Auftrag. Es wurde dort verlangt, dass wieder mehr Gewicht auf Letzteres gelegt werde. Als gutes Beispiel wurden die Waldorfschulen erwähnt. Bleibt doch die Frage, ob die Waldorfschule den Rahmen dieser pädagogischen Möglichkeit noch besitzt und wenn ja, wie weit sie ihn nutzt. Das heißt, in wie weit es auch an der Waldorfschule noch möglich ist, neben dem aristotelischen inhaltsbezogenen Unterricht auch die platonische Methodik noch ihren Raum hat. In der „Philosophie der Freiheit“ hat Rudolf Steiner die aristotelische mit der platonischen Denkweise verbunden und nach dem Prinzip von Polarität und Steigerung (Goethe) erhöht. Dieses Prinzip, das man allerdings in diesem Falle besser „sokratisch“ (und eben nicht platonisch) nennen müßte, ist auch in der Waldorfpädagogik verankert. Nun stehen dem die staatlichen Anforderungen nicht gerade fördernd gegenüber. Die aristotelische Methodik hat sich seit 2000 Jahren stets behauptet. Sokrates nahm gelassen den Giftbecher. Die platonische Methode muss ihren Weg in der Zukunft noch finden.