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Stefan Lubienski

Die polnische Volksseele und die Anthroposophie

Teil 2

Andrzej Towianski

Towianski lebte von 1799 bis 1878; er wirkte noch, als die großen Philosophen Polens ihre Werke schrieben:

August Cieszkowski (1814-1894), mit seinem Hauptwerk „Das Vater-Unser“(1), Hoene-Wronski(1778-1855), Ferdinand Trentowski(1808-1869), Karol Libelt (1807-1875) und andere.

August Cieszkowski

Sigismund von Gleich schreibt, Walter Kühne zitierend, über diese Philosophen das folgende: “Das Denken vermittels Meditation zu verdichten zu geistiger Anschauung oder Imagination und Intuition, oder zu steigern in religiöser Gefühls-Exaltation zur Inspiration, und hierdurch mit den kosmisch-hierarchischen Wesenheiten der Geisteswelt in Verbindung zu kommen, das ist immer wieder das höchste Streben der bedeutendsten polnischen Geister gewesen. Aber es ist ein Unterschied, ob diese Begeisterung die Folge des unmittelbaren Gefühles oder der bewußten Vernunft ist. In beiden Fällen kann ihr derselbe Inhalt zu Grunde liegen, das Höchste, das Absolute, Gott; aber es ist die Frage, von welcher Seite er zu helleren Anschauungen kommt. Von zwei Arten dieser Exaltation, der poetischen und der philosophischen, ist die letztere die besonnenere. Diese Seite der Begeisterung ist zwar in der neuen Philosophie nicht anerkannt, Cieszkowski aber ist es, der sie annimmt, nachdem auch Schelling sie als Anschauung, als eine angeborene Gabe, die nicht jedermann haben könne, behauptet hatte. Der Vorzug aber philosophischer Intuition ist es, dass man den lebendigen Inhalt mit der Vernunft erfaßt und somit denselben zu einem Werk, wirklich zu einem Evangelienbuch umgestalten kann. Die führenden der polnischen Philosophen wollten die Einseitigkeiten des Hegelschen Denkens dadurch überwinden, dass sie in das Denken den Willen hineinschickten, wodurch es zur Meditation wird und zuletzt zur `mystisch-aktiven Intuition´. Diese geistige Intuition vertrat eben Cieszkowski und auch Trentowski. Libelt dagegen versuchte eine `Philosophie der gestaltbildenden Vorstellungskraft oder Imagination´ aufzubauen und tastete sich sogar zur Inspiration vor. Der bloße Gedanke verdichtet sich zur inneren Geist-Wahrnehmung; aber hinter dieser `Imagination´ waltet als treibende Kraft die geistige Inspiration; indem sie mit ihrem `himmlischen Feuer´ die menschliche Vorstellungskraft berührt, verwandelt sich diese. Die Inspiration, sagt Libelt, ist das `Herabsteigen des Schöpfergeistes auf den menschlichen Geist´. Alle Liebe, alle Einweihung, alles Tun fließen aus ihr. Durch sie erleuchten sich alle Wahrheiten und erglänzen die Ideale der göttlichen Vollkommenheit. Darum ist Inspiration in der Religion, in der Wissenschaft, in der Geschichte das Prinzipielle. `Das polnische Volk´- schreibt Libelt - `war niemals zugänglich für die Abstraktion, für diese Gestaltlosigkeit der reinen Vernunft, welcher sich mit solcher Liebe der kontemplative Geist der Deutschen hingibt. In unserem Volke hatte immer das Gefühl für die Welt des mehr konkreten Schauens die Oberhand, so dass der Volksgeist Polens nicht zur Reflexion neigte. Wo auch immer die Tätigkeit des Geistes hervortrat, mußte sie plastischen Charakter haben´.“ Soweit Sigismund von Gleich.

Um Leid und Schwäche als Ausfluß der Uneinigkeit um das Jahrhundertende noch deutlicher aufzuzeigen, kam als letzter einer Zeit der Finsternis noch ein Prophet: der Maler und Dichter S.Wyspianski (1869-1907). Sein Werk bildete eine Warnung vor Mutlosigkeit und moralischer Spaltung. Er kam, den Geist seines Vaterlandes wachzurütteln. Er schrieb zahlreiche Dramen, darunter „Hochzeit“, das hunderte Male in Polen bis heute aufgeführt wurde, auch im Ausland: Wien, Paris u.s.w.

Der Dichter heiratet eine einfache Bäuerin (so fängt dieses Drama an). Alle möglichen Menschen sind eingeladen. Jeder kommt mit einem anderen Gefühl, oft mit kritischen Gedanken und mit Spott, bis sich aus den Gesprächen und dramatischen Verwicklungen etwas Drohendes kristallisiert: eine Gewissensstimme gegen den Schlamm der Alltäglichkeit und der Kleinlichkeit. Auch geistige Gestalten aus der Geschichte Polens kommen mit der vorwurfsvollen Frage: “Was tut ihr da? Warum so willenlos? Eure Seele liegt in tiefem Schlaf versunken.“ Endlich kommt als unerwarteter Gast eine Strohpuppe herein: Chochol. Um diese sehr wichtige Figur besser zu charakterisieren, werde ich Jerzy Braun zitieren, einen großen Denker und Schriftsteller der Jahre 1930-1940.

„Der Chochol ist eine Strohgarbe ausgedroschenen Getreides, die das polnische Landvolk auf seinen Hütten an den Giebeln der Strohdächer zu deren Schutz und Zierde aufsetzt. In solche Strohgarben werden im Winter auch Bäume und Sträucher zum Schutz gegen die Kälte gehüllt. In der Auffassung Wyspianskis repräsentiert der `Chochol´ das Element der Vergangenheit und der seelischen Erstarrung, - etwas, was bereits lebensunfähig ist und vernichtet, überwunden werden muß, um einer neuen schöpferischen Kraft Platz zu machen, sonst schleicht sich dort das Böse hinein und führt das Volk ins Verderben. Jene Garbe Stroh symbolisiert einmal das Leben (beim Erntefest), das andere Mal den Tod (ausgedroschen, leer). Neben dem `Chochol´, mit ihm im Streit, der junge ritterliche Jasiek, der ... mit seinem goldenen Horn das Volk zum Aufstand ruft. (eine trunkene Illusion dieser Hochzeit, ein Traum). So stehen im Gegensatz: das berüchtigte polnische `Strohfeuer´ und der dämonische Strohwisch, der den Bauern auf einer `gebrochenen falschen Geige´ vorspielt und sich gespensterhaft im Kreise herumdreht (alle sind wie bezaubert). Der Chochol singt:

`Du hattest, Tropf, ein gold`nes Horn,

Du hattest, Tropf, den Federhut,

Dein Horn erschallt im fernen Wald,

Den Hut entriß der Sturm dir bald,

Der Strick blieb dir als einz`ges Gut!´

Umsonst verkündet der Hahnenschrei die Morgenröte, umsonst auch läuten die Glocken. - Auf der Bühne spielt sich das Mysterium der nationalen Verleugnung ab. ... Das Volk wird seiner historischen Sendung untreu, zu der es auserkoren war. Die Hölle Polens ist kein Flammenmeer: In schlaftrunkener Stille und Erstarrung ... funkeln die Augen der Pfauenfedern des `Bauernhelden´ Jasiek und sein Horn: Übermut-Strohfeuer und ... sein Gegensatz, sein Schatten: Trägheit, Mumifizierung! Das sind zwei Hauptsünden der polnischen Volksseele, die Wyspianski in allen seinen gewaltigen Bühnenspielen schildert. Übermut und Hochmut (Strohfeuer, sinnlose Bravour und Opfersucht) führt letzten Endes zu Anarchie, Trägheit ist die Quelle der Apathie, die in krassem Gegensatz zu dem angeborenen Triebe der Polen zur sozialen Betätigung steht. Durch Tätigkeit und Ordnung allein kann das polnische Volk seine Mission erfüllen: die Affirmation des ewig schöpferischen Lebens. Gegen diese Ideale eben spitzt der Teufel - als Dämon oder Chochol in den Tiefen der Volksseele verborgen - seine Hörner, während mehr im wachen Bewußtsein Jasiek sein Horn wohl spielt, doch läßt er den Wind dieses Horn samt dem Pfauenfederhut sich entreißen, so dass er in der kindischen Seele nur den Strick behält.“

Nach dem Ersten Weltkrieg, im November 1918, wurde Polen als selbständiger Staat befreit. Fand dadurch auch die wirkliche Befreiung statt, oder ist vielleicht nicht, zusammen mit dem polnischen Volksgeist, aus dem Grabe auch der polnische Dämon erstanden? - Der Dämon mit den zwei Gesichtern? -

Was kennzeichnet nun Polens Geist und Seele am meisten? Wie ist die Volksseele Polens wirklich beschaffen? Welches sind ihre Schattenseiten, ihre Schwächen?

„Wenn jemand an einen Polen die Frage richtete;“ schreibt Jerzy Braun, „welches die Zentralidee des Polentums sei, die alle Triebfedern des individuellen und Gesamtlebens der Polen in Bewegung setzt, so würde dieser gewiß antworten: die Freiheit.“ Tatsächlich ist die Freiheitsliebe in Polen bis ins Äußerste getrieben. Falls sie eine Besessenheit durch die Freiheitsidee wird, nimmt sie übertriebene Formen an, wird in Willkür entstellt und verursacht Anarchie. Die tiefe Intuition der polnischen Volksseele sucht eine Korrektur dieser übertriebenen Freiheitsidee in zwei Richtungen: Religion und Gemeinschaft.

Kennzeichnend nämlich für die polnische Psyche ist die Vereinigung persönlicher Freiheitsliebe mit tiefer Religiosität, die nicht nur dem Glauben, sondern auch der Gewißheit bezüglich der persönlichen Existenz Gottes entströmt. Der Pole strebt zur Freiheit deshalb, weil in ihm das Bewußtsein des Menschentums sehr stark entwickelt ist. Es lebt in ihm die Idee des nach dem Ebenbilde Gottes geschaffenen „ewigen Menschen“. So ist die Liebe für die Freiheit mit Selbstrespekt, mit Respekt für den andern und mit der Würde verbunden und ist dann nicht aus dem Punkt des „Ich“ erlebt, sondern aus dem Umkreis der idealen freien Gemeinschaft. Diese zu stiften unter Führung einer weisen Persönlichkeit war die schwierige Aufgabe Polens.

Die großen Rechtswissenschaftler und sozialen Reformatoren (und Polen besaß deren viele) haben die Zusammenhänge gesucht: Freiheit verbunden mit Recht und bedingt durch Verantwortlichkeit. Sie haben sich auch gefragt, welche Bürden die Freiheit dem individuellen Menschen auferlegt, damit die Ordnung gesichert bleibt.

Adam Mickiewicz schreibt: “Nirgends in der Welt gab es Beispiele einer derartigen Sicherung der persönlichen Freiheit. Die Konstitution Polens stellte sich aber von vornherein in eine schwere Lage: sie forderte von den Staatsbürgern ununterbrochene und unerhörte moralische Kraftanstrengungen, sie schien nur mit Menschen zu rechnen, die stets großherzig wären oder sich um die Klugheit bewarben, die sich stets aufopferten oder zu Opfern bereit wären.“

In allen Formen dieser idealen Verfassung des polnischen Staates kam der ganze polnische Individualismus zum Vorschein, der in jedem Akte der königlichen Gewalt (später des Präsidenten samt Parlament) ein Attentat auf sein Ich und seine Rechte zu sehen glaubte. Die Furcht vor einem „absolutum dominium“ verwandelte sich allmählich in die eifersüchtige Bewachung der Reinheit und Unverletzbarkeit dieser idealen Ordnung, die um ein Haar an Anarchie grenzte. Die in die Millionen gehende Masse des Adels kämpfte wie ein Löwe um diesen „Augapfel der Freiheit“ (Jerzy Braun), bereit, sich mit jedem Nachbarstaat gegen den eigenen König zu verbünden, wobei der Unterschied zwischen Rechtmäßigkeit und Hochverrat oft verkannt wurde.

Und die schöpferische Kraft, die dieses ideale System ins Leben gerufen hatte, versiegte (schreibt Jerzy Braun 1939), als alle ursprünglichen Tugenden durch Eigennutz, Hoffart, Mißbrauch, Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Staates und einen gedankenlosen Hedonismus ersetzt wurde. Es schlich sich der alte Dämon der polnischen Volksseele, die Anarchie und Trägheit in das bewußte Seelenleben und die Geistwirksamkeit Polens und ... bemächtigte sich des „Königtums der Mutter Gottes“, um es ins Verderben zu ziehen.

Umsonst erscholl (Mitte des 17.Jahrhunderts) die Stimme des begeisterten Predigers Piotr Skarga:“O du unzüchtiges Reich, dein Untergang ist nahe.“

Das Polen, welches allmählich in Unwissenheit und in allen Hauptsünden der Sachsenherrschaft versank (Mitte des 18. Jahrhunderts regierte in Polen die Dynastie der sächsischen Prinzen), ging rettungslos der Katastrophe seiner Teilungen entgegen.

Der europäische Westen blickte in staunender Erstarrung auf dieses beispiellose Schauspiel der polnischen Anarchie. Da er die inneren geistigen Triebfedern dieses Vorganges nicht erkannte, glaubte er, ihn mit Recht rücksichtslos verdammen zu können. Dafür mußte er aber die hier offenbarten Rechtsbegriffe (schon hier und dort erfaßt und verwirklicht in Polen) späterhin bei sich als den Grundsatz der Rechte des freien Menschen und Staatsbürgers unter den blutigsten Revolutionen von neuem gebären. War aber die Trinität Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in der französischen Revolution verwirklicht? Trat sie dort nicht erst als ein Zerrbild auf? Und in Rußland? ...

Der politische Realismus Europas gebot, diese „ekstatische Katalepsie des polnischen Volkes“ erst zu vernichten, um sie später auszunützen. Die mächtigsten Nachbarn, drei große Staaten, warfen sich Ende des 18.Jahrhunderts von drei Seiten über das Land und rissen es in Stücke. Es sei hier wohl bemerkt (sagt Braun), dass diese blutige Kommunion ihnen aber nicht zum Guten gereichte.

Hat sich jedoch diese Tat nicht in einer Metamorphose wiederholt? Am 23.August des Jahres 1939: der Molotow-Ribbentrop-Pakt. Gemäß diesem Akte hat die russische Armee Stalins am 16.September 1939 die polnische Grenze überschritten (hinter dem Rücken des polnischen Heeres) und Adolf Hitler geholfen. So war Polen wieder geteilt, jetzt nicht in drei, sondern in 2 Teile und später (1945) durch das Verschieben von Grenzen (von Ost nach West) gezwungen, an der Teilung Deutschlands mitzuwirken.

Die Struktur der polnischen Seele ist von einer eigenartigen Polarität. Und ihr Streben ist das Suchen einer Waage (Gleichgewicht).

Vielleicht lebt sich kein Volk so polar aus wie das polnische. Nirgends in West- und Mitteleuropa verläuft die Geschichte in solchen plötzlichen Sprüngen. Stets aufs neue entsteht erst etwas wie ein Wunder, eine Eingebung von oben, die nach einer Weile der Auswirkung in einen Sumpf von Leidenschaft und Zwietracht versinkt. Ein Weg vom Übersinnlichsten zum Stofflichsten und Alltäglichsten. Und dies Spiel der zwei Gegensätze erscheint rhythmisch-periodisch stets aufs neue wie ein Wellenspiel des historischen Schicksals. Wieder und wieder kommen neue Sprünge, denn jeder neue Rhythmus, jede neue Welle setzt sozusagen mit einem Sprunge ein.

Diesen Verlauf, dies Spiel von Kontrasten kann man in allen möglichen Erscheinungen der polnischen Gesittung verfolgen, vor allem auch in den Früchten und Schöpfungen.

Bereits die einfachen Volkslieder bewegen sich zwischen zwei Gegensätzen: getragen, seherisch, schwermütig im ersten Teil, gehen diese Lieder und Tänze im zweiten Teil plötzlich in einen überschwenglichen Rhythmus, einen Strom von brausendem Leben über. Dabei sind die Gegensätze nicht nur Menschenschmerz und Menschenfreude, sondern wahre Mystik und irdischer Rausch.

Das Temperament der Polen ist auch eine Vereinigung von Gegensätzen: Feurigkeit und Verschwommenheit. Ein Übergewicht der Feurigkeit gibt Frohsinn und Heiterkeit, kindisches, schlichtes Gemüt; dagegen erzeugt das Umgekehrte Trauer und Schwermut. Ungeachtet der Heiterkeit (sie kommt eher in Tänzen und Liedern vor) ist das Leitmotiv der Kunst (auch Dichtkunst und Drama) nicht der Sonnenaufgang, sondern der Sonnenuntergang; auch nicht Lenz, sondern Herbst: November. Alle Schwellen-Entscheidungen des polnischen historischen Schicksals fallen mit dem Herbst zusammen.

Zwischen den zwei „senkrechten“ Strömen, dem von oben, der Begeisterung, und dem andern, dem von unten, dem Strom der unbewußteren Urkräfte und blinden Antriebe - zwischen ihnen liegt in der polnischen Seele eine Art von Leerraum, charakteristisch für die slawische Seele überhaupt. Doch ist dieser nicht etwa so groß wie bei den Russen.

Adam Mickiewicz

Bei den Russen ist der Einschlag von oben, die erste sinkende Linie, eine Art gewaltiger Blitz, und das, was von unten dieser Linie entgegenkommt, eine wahrhaft blinde Urkraft. In der Mitte, in welcher sich diese beiden Linien begegnen müssen, befindet sich eine so riesige Leere, dass sie fast dem Nichts gleicht. Von „oben“ inspirieren die Russen mächtige, schwer zu erfassende Urideen; von „unten“ werden diese großen, übermenschlichen Ideen durch eine chaotische, blinde, grausame Urkraft untergraben, während - wie gesagt - in der Mitte vollständige Leere herrscht.

Um diese Leere auszufüllen, entlehnen die Russen dem Auslande alle möglichen Kulturformen, Systeme und Ideologien; stellen sie, sozusagen, in diesen Leerraum ihrer Volksseele als eine Art vorübergehendes Bindemittel oder Ersatz, der aber der russischen Volksart fremd bleibt, obwohl er zeitlich das Wachbewußtsein füllt.

Die Polarität, welche die polnische Seele mehr oder minder zerreißt, besitzt mildere Seiten, mehr ineinanderfließende Linien. Auch kommt es, wie wir das bereits darzustellen versuchten, in der polnischen Geschichte von Zeit zu Zeit zu Augenblicken echter und harmonischer Synthese, ja, zu geistiger Gestaltwerdung. Die übersinnliche, göttliche Inspiration wirkt sich in der polnischen Seele nicht so allhaft, großartig wie in Rußland aus (Solowjeff, Dostojewski). Sie tritt in Polen wie durch ein seelisches, milderndes Medium auf; das sonst blendende Geisteslicht scheint hier mehr durch eine Art Schleier; spiegelt sich in und äußert sich durch die Verstandesseele, die zugleich die Gemütsseele ist (Vgl. Rudolf Steiner). Darum vielleicht ist die Rückwirkung, der Widerstand des unteren Menschen, der niederen menschlichen Natur in Polen nicht so finster wie in Rußland; der gesunde Verstand hält das Unterbewußtsein im Zaum.

Um jedoch die höhere, inspirierende Kraft besser zu charakterisieren, müssen wir hier noch die Aufmerksamkeit auf ein sehr eigenartiges Kennzeichen des polnischen Glaubenslebens lenken.

Wie zu Anfang bemerkt, war Polen im 10.Jahrhundert noch in seinen Kinderschuhen plötzlich aufgezwungen worden, sich inmitten eines recht grausamen und schwierigen Lebens zurechtzufinden und also seine himmlischen Träume von sich abzuschütteln. Dies junge Polen nahm dann das Christentum nicht als einen Antrieb auf, der von seinem göttlichen Stifter Jesus Christus stammte, sondern vielmehr sozusagen aus der „Hand“ seiner Mutter, der Madonna, die es vor dem allzu starken Lichte mit ihrem weißblauen Mantel beschirmte. Ein Kind unter den Völkern hatte noch lange eine Mutter nötig; Maria, an der Wiege des polnischen Volkes stehend, nahm in dessen Gefühl die Stelle eines Schutzengels ein, eine fast so bedeutsame Stelle wie Christus selbst.

Schon die erste dichterisch-musikalische Schöpfung aus dem ersten Jahrhundert des polnischen Reiches ist ein Hymnus an die Madonna, Bogarodzica, der dann die ganze Geschichte hindurch diesem Volke ein treuer Begleiter zu vielen seiner geschichtlichen Taten wurde. Die ersten Ritter und Heere Polens traten mit diesem Preislied auf die Jungfrau dem Feinde entgegen. Als im Jahre 1683 Sobieski mit seinen Eisenreitern wie ein Adler vom Kahlen Berg bei Wien auf den muselmanischen Halbmond, auf das große türkische Heer rings um Wien niederstieß, sangen alle polnischen Ritter und Krieger die „Bagarodzica“, das ewig-große Lied an die Heilige Jungfrau. Doch stand dies Lied nicht allein: Maria ist die Heldin unendlich vieler Lieder, Legenden und anderer Schöpfungen.

Der Madonna waren verschiedene Heiligtümer geweiht, an erster Stelle die Wunderbilder zu Czenstochau und im Ostrabrama-Dom zu Wilna. Mit einem kleinen Abbild dieser Maria von Wilna auf der Brust starb Marschall Pilsudski. Die Jungfrau, so denken Abermillionen von Polen, hat Polen so manches Mal aus der größten Gefahr wie durch ein Wunder gerettet, so zum Beispiel im Jahre 1656 bei Czenstochaus heldenmütigem Widerstand gegen den schwedischen Einfall, und im August 1920 bei dem Einfall des großen bolschewistischen Heeres. In der Litanei wird Maria in Polen nicht nur Königin der Engel, sondern auch der polnischen „Krone“ genannt. Im Monat Mai, der der Jungfrau geweiht ist, versammeln sich die Bauern nach Sonnenuntergang unter einem Marienbilde inmitten der Felder und Wiesen und singen unter der seltsamen Begleitung der gesamten Mai-Sinfonie der Natur - die Litanei der Maria.

So sieht man, wie das polnische Volk bis in die Tiefe seiner Seele mit dem Marienimpuls verbunden ist, aber ganz anders als die spanische oder italienische. In Spanien ist sie wie von Holz geschnitten, etwas straff, den Kultus impulsierend und die Kunst. In Italien ist sie die Mutter mit dem Kinde; eine himmlische Erscheinung in einem weiblichen Körper. In Polen ist sie die alle Seelen umhüllende göttliche Kraft. Hat sie etwas von der Pistis-Sophia der Gnostiker oder vom Ewig-Weiblichen (Goethe:“Faust“)? Ja, und nein!

So wie die Zukunftsaufgabe Rußlands ist, die Brücke zu dem Geistselbst zu schaffen - die Mission Polens würde den Lebensgeist, also das Leben schenkende Geistige, das aus der Sphärenharmonie wirkende, sich neigende Göttliche bis in die Verstandesseele sich spiegeln lassen, das Gemüt dieser Seele belebend und segnend. Da aber die Spannung zwischen Lebensgeist und Verstandesseele sehr groß ist, entsteht die Gefahr eines Kurzschlusses.

Eine aber geistgerichtete und zugleich tief in der Materie wurzelnde Frömmigkeit der Seele kann diese vor dem Kurzschluß schützen und ihr eine nötige Substanz des Geistigen geben. Die Schenkerin dieser Substanz ist eben die Königin der Engel, die Trägerin des Gottes-Wortes.

Die polnische Madonna ist also nicht nur eine Madonna der russischen Ikonen, eine „Mater Dolorosa“ der Tiefen; auch nicht die Vertreterin des Heiligen Geistes (Sophia des Solowjeff), sondern sie bringt aus den höchsten Höhen der Sterne, aus der Welt der Liebe einen Teil des Logos, aber nur so viel, als das individuelle Ich des Menschen in Freiheit aufnehmen und durch die menschliche Gemeinschaft realisieren kann, auch in voller Ungezwungenheit.

So füllt diese polnische Madonna das, was noch leer ist in der Volksseele. Sie hilft sozusagen dieser Seele, mutig im Zeichen der Geißelung zu stehen, zwischen einem Impuls aus dem Westen und einem anderen aus dem Osten, aber gleichzeitig auch im Zeichen der Kreuzigung, im Brennpunkt des Ich, zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Himmel und Erde.

Zu Beginn dieser Arbeit bemerkten wir, dass die Dreieinigkeit in der westslawischen Götterwelt sich dadurch auszeichnet, dass in ihr zwischen den Gegenpolen: Weiß und Schwarz (der altpersischen Dualität), also zwischen Bielbog und Czernybog, der Gott der Mitte: Ham steht. Dieser bedeutet wörtlich „der Hemmende“, auch der Gott der Waage, des geistigen Gleichgewichts. Hinter diesem Bilde verbirgt sich aber viel mehr. Braun schreibt in seinem Aufsatz u.a.:

„Die intuitive Grundlage der polnischen Weltanschauung ist weder ein hinduistischer oder semitischer Monismus noch ein persischer Dualismus, sondern der Trialismus: die Polarisation und das Gleichgewichtssuchen.“

In der sozialen Philosophie ist das die gesuchte Brücke zwischen Idealismus und Realismus (Pilsudski spricht in seinen vielen Reden vom „idealistischen Realismus“). Es ist auch der Grundstein der polnischen Philosophie, die in der letzten Zeit sehr nüchtern ist und doch nicht materialistisch.(2)

Der polnische Glaube an die Unvernichtbarkeit des Lebens drückt sich keineswegs in Kontemplationen und der Flucht vor jeglicher Aktivität aus.

Die Welt erscheint dem Polen nicht als ein Trugbild. Im Gegenteil: als Motiv und Objekt seines schöpferischen Willens, als das reale und konkrete Gebiet seiner sozialen Tätigkeit und als Speise für seinen Verstand. Dem intensiven Gefühl seines „Ich“ entfließt das Bedürfnis seiner Geltendmachung im Leben, zugleich aber auch der Achtung jeglicher fremden Persönlichkeit und fremden Anschauung, was die Quelle der sprichwörtlichen Toleranz der Polen ist. Von da ist der Weg zu einem universalen Humanismus, der eben dem Polen eigen ist, nicht mehr weit. Der polnische Katholizismus ist frei von jeglichem Fanatismus und mystisch-ekstatischen Schwärmereien; er ist von Grund auf human, tolerant, allmenschlich („katholikos“).

Man meint, der polnische sogenannte Messianismus sei eine Reaktion der Volksseele auf die Katastrophe der Teilungen Polens. Diese Anschauung ist in gewissem Maße begründet. Jene gewaltige Erschütterung brachte aber nur solche Elemente der polnischen Psyche an die Oberfläche, die bereits in ihr vorhanden waren. Polen träumte nie von einer Weltherrschaft, dafür besaß es aber seit Urzeiten eine tiefe Sehnsucht nach einer Gemeinschaft des Geistes, nach dem Reiche Gottes auf Erden, verwirklicht durch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Da das polnische Volk keine Menschenherde, keine organisierte Masse, sondern eine freiwillige Gemeinschaft autonomer Individuen darstellen wollte, hat sein schöpferischer Gedanke weder den Homunkulus eines „Erdenparadieses“ noch das Golem-Monstrum des bolschewistischen Kollektivs, auch nicht einen Kasernenstaat mit absoluter Führerschaft zur Welt bringen können. Die Idee des „sozialen Vertrages“ eines Rousseau erschien ihm ebenfalls eine lügenhafte, einseitige Vorspiegelung, da sie das Gottesrecht aus dem Völkergesetz verbannte. Ebenso abstoßend wirkte auf die Polen die Idee eines sozialen Fortschritts durch revolutionäre Blutbäder. Die Intuition des mit der Göttlichkeit in Einklang gebrachten Menschentums, mittels der Mission einer Zusammenarbeit mit Gott auf Erden, das war und ist Polens Seele, in welcher Gottes Geist seinen Wohnsitz haben kann, wenn die brüderlich verbundenen Menschen Ihn frei, ungezwungen aufnehmen und versuchen zu verwirklichen.

Wir alle, Menschen der Gegenwart, sind Zeugen der Geburtswehen, in welchen die Menschheit liegt. Das „Kind“, das zur Welt kommen will, ist die wahre menschliche Gemeinschaft. Sie ist in erster Linie der Traum aller slawischen Völker. Jedesmal aber, wenn dieser Traum sich realisieren will, findet eine Mißgeburt statt - die Gemeinschaft wird als Zerrbild geboren.

Grab von August Cieszkowski

Nur freie Träger des „Logos“, des göttlichen Wortes, können die wahre Gemeinschaft in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen.

Anmerkungen des Herausgebers:

(1) siehe dazu: Walter Kühne: „ Erlebnisse eines Polonisten “. Lohengrin-Verlag, Rendsburg (jetzt Tellingstedt)1995.

(2) siehe: Zbigniew Kantorowicz: Das philosophische Ideengut Polens . Bonn 1988.

 

Schriften von Stefan Lubienski in holländischer Sprache:

De Evolutie van de Materie. 117 Seiten

Mens en Kosmos. 172 Seiten.

Erhältlich über

Stichting Stefan Lubeinski; Watersnip 11; NL-3755  Eemnes