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Der nachfolgende Aufsatz wurde im Jahr 1980 verfaßt und in der Zeitschrift „Erde und Kosmos“ (Hg. Hellmut Finsterlin, Schönau, Schwarzwald) veröffentlicht. Der Verfasser musste nach der Veröffentlichung mit Schwierigkeiten fertig werden, so wurde ihm unter anderem von einem Vertreter eines höheren Gremiums mitgeteilt, dass wenn er weiter schriebe, ihm jede Fortbildungsmöglichkeitmentzogen würde. Aber diese Schwierigkeiten betrachtet der Verfasser inzwischen als verjährt, auch wenn sie zur Geschichte hinzugehören und deshalb nicht ganz unbenannt sein sollen. In Anbetracht der Situation der Eurythmie in der Gegenwart (siehe dazu die anderen Artikel zur Eurythmie auf dieser Homepage und besonders das "Flensburger Heft Nr. 73: "Die Eurythmie - Aufbruch oder Ende einer jungen Kunst" (Flensburg 2001) soll dieser Aufsatz jedoch zeigen, dass es schon vor mehr als 20 Jahren möglich war, die in den letzten Jahren zu Tage getretenen Probleme zu erkennen. Aus diesem Grunde veröffentlichen wir diesen Aufsatz (im Bewußtsein des dokumentarischen Charakters) und auch dessen Teil 2 auf unserer Homepage und möchten ihn damit ausdrücklich zur Diskussion stellen.

 

Arfst Wagner

Beobachtungen im Eurythmiestudium

Ist das Eurythmiestudium der Dreigliederung und den heutigen Anforderungen gemäß?

 

Besonders eindringlich sprach Rudolf Steiner am 28.März 19020 (siehe GA 198) von der Verantwortung des Mitteleuropäers für eine Erneuerung des Geisteslebens und den Folgen von Unterlassungen und Bequemlichkeiten im Hinblick auf die organische Entwicklung dieser Kulturerneuerung.

„Man zwingt die Menschen, die Jugend hinzuschicken in diese Hochschulen, in denen ihnen Experimentiererkenntnisse zwar beigebracht werden, aber ihr Denken, ihr ganzes Seelenleben in Grund und Boden hinein verunlogisiert wird. Und man will nicht hinschauen auf die Notwendigkeit, dass ja allerdings das Geistesleben sich auf sich selbst stellen muß im dreigliederigen sozialen Organismus. … Und wenn diejenigen, die ein wenig einsehen, was sein muß, weiter schlafen, dann wird es schon dahin kommen, dass vorläufig wenigstens für die europäische Kultur das Grab gegraben wird, und dann von ganz anderen Seiten eine Erlösung kommen muß.“

 

Wie weit sind die Bestrebungen auf den anthroposophischen Hochschulen in Bezug auf die soziale Dreigliederung verwirklicht? Wo bedarf dieses Geistesleben einer Erneuerung? Es soll nicht Sinn dieser Ausführungen sein, Behauptungen aufzustellen, sondern es soll um die Bemühung gehen, Erfahrungen und Wahrnehmungen auszuwerten. Es gilt, die Frage nach dem Prinzip des inneren Lebens einer Freien Hochschule zu stellen. Um dieser Frage näher zu kommen, sollen die Verhältnisse auf Eurythmieschulen beleuchtet werden.

Eine nicht seltene Beobachtung ist die folgende: Die Lehrer und Dozenten kennen im Allgemeinen die Lebensbedingungen der Studenten überhaupt nicht. Dies gilt nicht nur für die Eurythmieschulen. Entweder entsteht eine einseitige Gruppenwirtschaft durch diejenigen, die genauso mitziehen, wie man es von ihnen fordert und erwartet (der bekannte „Lokalpatriotismus“ hat hierin seine Ursache) oder es entsteht eine unmenschliche Rivalität unter den Studenten. Das Autoritätsverhältnis basiert nicht auf der Erkenntnis der Autorität innerhalb der künstlerischen Arbeit oder des Unterrichts, sondern es gilt von vorneherein als festgelegt, wem etwas einfallen darf und wem nicht.

 

Der Freiraum des Forschens und Suchens wird zwar oft beteuert, doch ist er in den allerseltensten Fällen wirklich vorhanden. Es kommt zum Beispiel vor, dass der Ausbildungsplan ohne Rücksicht auf die Studenten von vorneherein auf Jahre hinaus vorgeplant und festgelegt ist.

 

Auf was muß der Unterrichtende seinen Unterricht beziehen? Auf die Individualitäten der Studenten, auf deren Lebensumstände, Fragen und Interessen. Das Ausbildungsziel liegt IN DEN MENSCHEN! Doch allzu oft wird der Auszubildende als reines „Material“ gesehen. Dies ist nicht als eine Kritik gemeint, sondern als eine Darstellung der Empfindungen so mancher Studenten. Der Unterricht wird hingezielt auf Diplome, Aufführungen usw. Zu oft wird hier die Eurythmie als reines Renomée-Werkzeug verwendet. Das Innenleben der Studenten wie auch deren äußere Lebensnöte entziehen sich jedoch vielfach den Wahrnehmungsfähigkeiten der Ausbilder. Oft sind diese auch zu überlastet, um sich auch noch mit „so etwas“ auseinanderzusetzen. Rudolf Steiner forderte ein solches Hinschauen auf dieses Innenleben jedoch immer wieder, so zum Beispiel am 2.März 1923 (GA 257):

 

„Ja meine lieben Freunde, die Jugend von heute hat eben innere Seelenerlebnisse, die in gewissem Sinne zum erstenmal in die menschheitliche Entwicklung hereintreten. Dadurch, dass man abstrakt und oberflächlich von den Gegensatz der älteren und jüngeren Generation spricht, ist es nicht getan.“

 

Die Autorität ist heute, allerdings wiederum nicht ausschließlich auf den Eurythmieschulen, genauso geregelt, wie auf den Hochschulen des vorigen Jahrhunderts. Für Waldorfschulen gilt das Prinzip der kollegialen Zusammenarbeit. An den Eurythmieschulen glaubt man, die der Vergangenheit angehörenden Verfahren einer äußeren Autorität in den Dozentenzusammenhängen wie auch in den Beziehungen Dozent-Student weiter beibehalten zu können. Rudolf Steiner:

 

Nun, diese Dinge muß man nur ganz unbefangen betrachten. Es war eben so bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, dass zwar der gegensatz, von dem man auch heute eben oberflächlich spricht, dass der gegensatz zwischen alt und jung schon vorhanden war, dass er aber im Sinne des Philistriums ausgeglichen wurde, dass sich die Jugend eben immer mehr anphilisterte dem, was als die Erbschaft von den Alten geblieben war. Das ist aber heute nicht mehr möglich. … Wenn man in der Terminologie, die aus der orientalischen Weisheit entnommen ist, sprechen wollte, müsste man sagen: Das ist nach dem Ablauf des Kali Yuga nicht mehr möglich, weil das Prinzip der Autorität nicht mehr in der selben Weise das soziale Leben durchströmt, wie das früher der Fall war. (2. März 1923. GA 257)

 

Die Jugend bringt die Motivation zum Studium mit aus dem Erleben des sozialen Chaos, aus der Wahrnehmung der Lebenssituation des Nächsten. Hieraus kommt der Antrieb zum energischen Einsatz im Studium. Man möchte sich als GANZEN MENSCHEN in den Unterricht einbringen, mit seinem „Ich“ beteiligt sein. Doch als Erlebnis bleibt dann oft einmal mehr, dass man wieder „zu etwas gekriegt werden soll“ (Michael Ende). Nahezu alle Studieninhalte sind von vorneherein ohne eine studentische Mitsprachemöglichkeit festgelegt. Somit fehlt dann die Möglichkeit, im Umgange mit dem Stoff sich zu üben, den eigenen Willen voll einzubringen.

 

Ein lebensnahes Beispiel: In einer Eurythmieschule fanden sich nach den Weihnachtsferien 1979/80 die Studenten des 2. Ausbildungsjahres zu einer Übstunde zusammen. In vollem Ernst meinte eine Studentin, sie wisse gar nicht, was sie üben soll, da der Lehrer noch gar keine neuen „Stücke“ gegeben hatte.

 

Hier wird deutlich, dass der forscherische Antrieb, SELBST zu eigenen Wegen der Arbeit zu kommen, zumindest am Verkümmern ist. Es besteht nur noch die Möglichkeit, aus unüberprüfbarer Autorität heraus zu übernehmen. Wenn Rudolf Steiner angegeben hätte, der Laut A würde seine entsprechende Bewegung in einem Tippen des Zeigefingers an die Stirn finden, würde es mit nahezu absoluter Wahrscheinlichkeit auch heute so ausgeführt. Wie sehr hat doch Rudolf Steiner darum gebeten, nichts auf Autorität hin anzunehmen!

 

„Schlecht wäre es für die Geisteswissenschaft, wenn derjenige, der noch nicht in das geistige Gebiet hineinschauen kann, auf blinden Glauben hin annehmen müsste dasjenige, was gesagt wird. Ich bitte Sie und habe sie gebeten ..., nicht auf Autorität und Glauben hinzunehmen, was ich jemals gesagt habe oder sagen werde.“(17.Juni 1910. GA121)

 

Genau das wird jedoch durch die heute gängige Art des Unterrichtens von den Studenten verlangt. Oftmals wird eine dem entgegengesetzte forscherische Aktivität durch Missgunst und Autoritätsglauben anderer Studenten verhindert.

 

Mit diesen Ausführungen soll nichts gegen die Übmethode des Nachahmens gesagt sein. Auch diese hat ihre Berechtigung. Bei vielen eurythmischen Problemen stellt sie die einzige Methode des Übermittelns von Lösungen dar. Doch ist sie bei weitem nicht die einzige Methode.

 

Als eine andere Methode sei die platonische Art des Lernens, wie sie in Platons „Menon“ beschrieben wird, angeführt. Hier zeigt Platon überzeugend, wie ein Sklave, der noch nie einen Mathematikunterricht genossen hat, unter der fragenden Führung des Sokrates von selbst den pythagoräischen Lehrsatz entwickelt.

 

Das Nachahmungsprinzip muß auf der Erkenntnis der Autorität beruhen und nicht auf einem vorherbestimmten oder angemaßten Rang. Es kommt durchaus vor, dass dem Lehrer einfach nichts, dafür den Studenten etwas einfällt. In der alten Studienart wird darauf keine Rücksicht genommen, zum Schaden der Beteiligten. Somit wird verhindert, dass der Student seinen Willen und seine Entwicklung in die Hand nimmt. Das Studium wird so als etwas unabwendbar zu Erduldendes herabgewürdigt. Die Folgen sind Resignation oder Ehrgeiz, Absterben der Phantasiefähigkeit oder luziferische Geheimniskrämerei. Dies schiebt der Entwicklung der Eurythmie einen Riegel vor. Abstrakt wird von der „Weltbedeutung der Eurythmie“ gesprochen; diese „Welt“, als eine in den herankommenden Studenten lebende, bleibt jedoch unbekannt. Ehrlicherweise müsste man die Eurythmie bei dieser Art der Unterrichtens im Unterschied zum Ballett folgendermaßen definieren: „Beim Ballett hat der Choreograph wie der ausübende Künstler die volle Freiheit der Bewegung, in der Eurythmie sind dagegen die Bewegungen und Gesten von Rudolf Steiner vorgegeben.“ Dies ein überzeugter Ausspruch einer Waldorf-Kindergärtnerin in der Ausbildung, nachdem sie einige Monate im Seminar und im Kindergarten an der Eurythmie teilgenommen hatte.

 

Als ich mich mit einer Eurythmielehrerin über Fragen des Stundenplans unterhielt und ich ihr sagte, der eigentliche Lehrplan befinde sich in den Studenten, er müsse von dem Lehrer dort herausgelesen werden, verstand sie mich nicht. Sie vertrat dann eigensinnig die Ansicht, dass „ja überhaupt nichts geschieht, wenn man nicht von vornherein einen Stundenplan festlegt“. dass es die Möglichkeit gibt, direkt an das anzuknüpfen, was die studierenden Menschen interessiert, darauf kommt man heute eben nicht mehr, nicht einmal in anthroposophischen Ausbildungsstätten. Was geschieht, muß man eine freiwillige Unterwerfung nennen, die in ihren Ausmaßen meist unbewusst bleibt. Der Student hat meist keine Möglichkeit, Bezüge und Auswirkungen der Arbeit einzusehen.

 

Dem Eurythmiestudium geht oder sollte gehen parallel die Ausbildung von Lehrern und Schülern im Sinne von Rudolf Steiners Grundschrift: WIE ERLANGT MAN ERKENNTNISSE HÖHERER WELTEN?. Darin fordert der Autor:

Es gehört zu den Grundsätzen wahrer Geheimwissenschaft, dass derjenige, welcher sich ihr widmet, dies mit vollem Bewußtsein tue. Er soll nichts vornehmen, wovon er nicht weiß, was es für eine Wirkung hat.

 

Es gibt sogar schon Eurythmisten in nicht unbedeutenden Positionen, die behaupten, dass die Eurythmie niemals schädlich sein kann: mache man die Bewegungen gut, wirke die Eurythmie stark, seien sie ungenau, wirke sie weniger stark. Das ist TM-Philosophie (TM = Transzendentale Meditation, eine östlich eingestellte, sektenartige Bewegung, Red.)

 

Das Thema „Stundenplan“ ist auch heute noch nicht bewältigt. Während eines Vortrags über Kindererziehung erwähnte Rudolf Steiner ein Mordmittel menschlicher Kräfte (am 10.8.1919; GA 296):

 

Allmählich ist unser Erziehungswesen so geworden, als ob wir gerade schreiten wollen zu dem, was ich gestern charakterisierte als Mechanisierung des Geistes, Vegetarisierung der Seele, Animalisierung der Leiber.

 

Wir dürfen nicht zu dem Schreiten. … Aber unsere Erziehungsgrundsätze müssen sich gründlich ändern, wenn wir in diesen Punkte gerade das Richtige treffen wollen: … So haben wir es nötig, dass, ohne dass der Bogen überspannt wird, nicht durch Anstrengung, sondern durch Ökonomie der Erziehung, Konzentration bei den Kindern erreicht werden soll. Dies können wir in der Weise, wie es der Mensch braucht, nur erreichen, wenn wir etwas abschaffen, was heute noch sehr beliebt ist: wenn wir den verfluchten Stundenplan in den Schulen abschaffen, dieses Mordmittel für eine wirkliche Entwicklung der menschlichen Kräfte.“

 

Ein Stundenplan ist allerdings noch nicht abgeschafft, wenn er bloß nicht mehr gedruckt vorliegt, sondern erst dann, wenn es zur Gesinnung wird, den Unterricht aus den Frage der Schüler- oder Studentenschaft heraus einzurichten und zu organisieren. Für eine Freien Hochschule heißt das, der Unterrichtsstoff muß kollegial von Studenten und Dozenten bestimmt werden. der Student und der Dozent begegnen einander auf der Ebene der erkannten Autorität. Auf diese Weise wird das Geistesleben das, was seine Bezeichnung besagt; ansonsten wird es auf die Dauer nur ein Geistessterben geben! Ein solches Forum für ein freies Lernen und Forschen kann eine Basis stellen für Verbindungen der verschiedenen Hochschulen untereinander zu einem freien Ideenaustausch.

 

Es besteht die Tendenz, junge Menschen mit eigenen Impulsen aus den anthroposophischen Institutionen herauszusetzen, wenn sie überhaupt noch den Wunsch haben, an diesen zu studieren. Unter diesen Menschen lebt stark der Goethesche Leitsatz: „Das Was bedenke, mehr bedenke WIE“. Das „Wie“ ist an diesen Institutionen indiskutabel.

 

Die Jugendrevolten der 60er Jahre sind eben durchaus verschlafen worden. Auch viele der jungen Menschen können für die neuen Ideen in Bezug auf eine Studienreform oft kein Verständnis aufbringen. Allzusehr sind sie bereits von den bestehenden Verhältnissen geprägt. Es nützt nichts, über „Symptomatologie“ zu theoretisieren, wenn dann doch nur gesagt wird über die Studentenbewegung: „die Ziele sind ja ganz gut, aber die Methoden…!“

 

„Freiheit im Geistesleben“ heißt eben nicht nur „frei vom Staat“ (auch das macht der Bewegung heute große Mühe), sondern „Freiheit“ ist auch als ein inneres Prinzip des Forschens und Lernens zu verstehen. Wenn das Innenleben nicht gesund ist, wird auch auf die Dauer keine Kraft für die äußere Auseinandersetzung vorhanden sein.

 

Als im Herbst des Jahres 1979 eine Eurythmiestudentin den Schulleiter einer anderen Eurythmieschule zu einem Arbeitswochenende mit einer Gruppe von Eurythmiestudenten einladen wollte, erklärte sich dieser dazu bereit. Die Schulleitung der eigenen Schule stellte jedoch dieser Initiative keinen Arbeitsraum zur Verfügung. Dies mit der Begründung, dass der Unterricht bei einem anderen Eurythmielehrer dem Ätherleib der Studenten schaden würde. Die Studentin musste sich wegen ihres „eigenmächtigen Verhaltens“ rechtfertigen.

 

Solche Dinge werden von den jungen Menschen schon richtig beurteilt. Ein Vertrauen, das auf gegenseitigem Verständnis beruht, kann unter solchen Bedingungen nicht erwachsen. Die Entwicklung wird dennoch fortschreiten in Richtung auf lebensvollen Unterricht! Es möge sich nur später niemand beklagen, dass er das Leben nicht mehr versteht!

 

Es soll hier niemand menschlicher Schwächen wegen angeklagt werden. Wo es jedoch an gutem Willen mangelt, müssen die Dinge klar ausgesprochen werden. An gutem Willen mangelt es dort, wo das Freie Geistesleben institutionalisiert wird, wo eben aus dem eigenen Denken und Wollen nichts mehr geschieht, sondern eine Instanz „Schule“ oder „Institution“ von vorneherein über die Köpfe der beteiligten Menschen hinweg entscheiden will. Hier entscheidet dann kein Mensch mehr, sondern Ahriman

 

Sehr bemerkenswert ist es, zu beobachten, wie bestimmte ungeklärte soziale Probleme in so einem erstarrten „Schulorganismus“ verdrängt werden, in die Vergessenheit geraten und nach einiger Zeit erheblich verstärkt wieder hervorbrechen. Problemangst ist Ahrimans Nahrung!

 

Es ist zu bemerken, wie so ein nicht auf das Leben, sondern auf abstrakte Grundlagen aufgebauter Schulorganismus mit ungeheurer Präzision Verdrängtes wieder in das Bewußtsein der beteiligten Menschen wirft und bei fortgesetzter Verdrängung zu sozialen Katastrophen führt, die die Gemeinschaft zerschlagen. Dann machen sich die Phrasen breit: „Da musst du hindurch!“ Sehr zynisch auch der Spruch Goethes: „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet“, der dann auch eurythmisiert wird. Die Resignation geht zum Teil schon so weit, dass empfohlen wird, „sich zu überwinden“, was jedoch hier meist heißt, man soll sich dem Ahriman fügen, ihn zu der „organisatorischen Grundlage“ des Studiums machen.

 

Die Folgen: soziales Vakuum (Glaswände zwischen den Menschen: „hier laufen ja lauter Eisschränke herum“). dadurch Förderung von Willensschwäche, da „man als Einzelner sowieso machtlos ist“. Auch spielt Ahriman dann dem Luzifer in die Hände in der künstlerischen Arbeit, da durch das gegenseitige soziale Unverständnis die persönliche Eitelkeit, das Geltungsbedürfnis und ähnliches heraufbeschworen werden.

 

All dies wirkt hemmend auf des Studenten eurythmisches Streben. Es wurden nur Beispiele herausgegriffen. Die Beschreibung lähmender Vorkommnisse könnte beträchtlich erweitert werden. Studenten verschiedener Eurythmieschulen trugen einiges zusammen. Es ist bekannt, dass nicht allen Eurythmiestudenten die Probleme bewusst werden. Das ändert an der Sachlage jedoch nicht.

 

Vorschläge und Ausblicke

Gerade in der künstlerischen Betätigung und Schulung ist die moralische Entwicklung des Sich-Bildenden von allergrößter Wichtigkeit. Im Umgang mit der Realität geistiger Kräfte und Mächte muß der Einzelne seinen Weg in die eigene Hand nehmen. Muß z.B. der Eurythmist verschiedene Gebärden, die von ihm noch nicht innerlich erfasst sind aufführen, so ist dies keineswegs unbedenklich. Es mag dies auch ein Übungsweg, kann jedoch nicht als Grundlage für das Eurythmisieren gelten. Die Folge eines einseitigen Nachahmungsweges, in dem der Ausführende nicht aus seiner eigenen, sondern aus einer fremden Idee heraus arbeitet, begünstigt die Unfähigkeit zur moralischen Intuition im späteren selbständigen Arbeiten. Es ist ja heute soweit gekommen, dass ganze Stücke nur noch aus der auswendig gelernten Partitur heraus eurythmisiert werden, nicht aus dem Erleben des Musikalischen. Mit Brillanz wird versucht, dies zu vertuschen; der Geist bleibt auf der Strecke. „Man weiß“, wo die Töne „sitzen“, was man tun muß, wenn diese oder jene Note auf dem Papier zu lesen steht. So bleibt die Eurythmie stets nur Kommentar und Illustration des sprachlichen oder musikalischen Geschehens. Eine Methodik zum qualitativen Erfassen von Lauten und Tönen ist bisher so unbekannt, dass ich von allen mir unbekannten Eurythmisten bisher darüber nichts erfahren konnte. Die einzige Ausnahme hatte einen Weg zum Wesen von Lauten und Tönen durch die Mitteilung einer inzwischen verstorbenen Ur-Eurythmistin in kleinen Ansätzen erfahren können. Die Möglichkeiten in dieser Richtung voll auszuschöpfen muß zur anerkannten Aufgabe werden, wenn wir die Eurythmie aus ihren Quellen heraus immer wieder jung und lebensvoll erhalten wollen. Dazu ist u.a. notwendig: eine intensive Gehörschulung (hier steht die Stimmbildung von Frau Valberg Werbeck-Svärdström als Übungsmöglichkeit zur Verfügung), Strömungsforschung (Das sensible Chaos von Theodor Schwenk) und eine Ideenlehre Platos (Unterrichtsthema: „Wie kommt man zum Schauen z.B. einer musikalischen Idee?“).

 

Der Student bekommt als ein in anthroposophischen Einrichtungen Lernender ständig ungewöhnliche, eindrucksvolle Lerninhalte in Fülle vorgesetzt, meist ohne, dass er die Möglichkeit hat, das Aufgenommene selbständig zu verarbeiten und zu seinem geistigen Eigentum zu machen. Er kommt nicht dazu, in sich die Frage zu stellen, die ihm zu Brücken der Verständnisses werden könnten und ihm die Entwicklung eigener Intuitionen ermöglichten. Der Prozess der Intuition kann sich nur vollziehen, wenn sich der Mensch mit allen Fasern seines Wesens zu den richtigen Fragen hinringt. Ist keine Frage gestellt, so reißt der geistige Strom im Lernprozess ab bzw. es entsteht gar keiner. Man läuft dann stets hinter dem eigentlichen Lehrinhalt verständnislos hinterher.

 

„…zuwider dem obersten Satz aller Bildung, dass man nur dem, der HUNGER darnach hat, eine Speise gäbe. Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsere Hantierungen und alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begibt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen – um unserer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allererst nötig haben, und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! … Dies ist nicht wieder gut zu machen – an uns! Aber denken wir nicht zuerst an uns!“ So trauerte Friedrich Nietzsche in seiner „Mörgenröte“.

 

Wollen wir versuchen, mit anthroposophischem Vokabular – damit diejenigen, die es angeht, auch verstehen, die Frage zu beantworten, was geschieht, wenn Eurythmie in ihren Einzelheiten ausgeschüttet wird über jemanden, der nicht fragt.

 

Durch die tief in den ätherischen Leib einwirkenden Bewegungen wird der physische Leib durchlässig. Die „niederen“ Leiber (physischer und Ätherleib) werden ungemein lebendig. Der Astralleib wird nun entweder durch eine immer bewußtere Einstellung der eigenen Tätigkeit gegenüber dem „Ich“ von diesem ergriffen und entwickelt sich weiter in Richtung auf den Grundsatz: „ein Schritt in der Erkenntnis, drei Schritte in der Moral“, oder er wird von der Belebung der „niederen“ Leiber regelrecht überfahren. Dann wird der Astralleib bzw. das Seelische zum Knechte dieser Einflüsse, statt vom Ich aus kontrolliert zu werden. Das Ergebnis ist, dass der Eurythmist die eigene Seele nicht mehr erkennen kann im Gewoge der auf ihn einstürmenden Erlebnisse. Dann entstehen u. a. das „ewige Lächeln“ oder die manirierte Gestik, die den natürlichen Ausdruck der Person verdrängt.

 

All dies kann sich einstellen durch die Begründung des Unterrichts auf einen formalen Stundenplan, also auf etwas Geschriebenes, das sich dann in den Köpfen befindet. Als Symptom sei folgende in den Eurythmieschulen sehr gängige Phrase an den Pranger gestellt: man soll doch „einfach mal tun“. Um einen bekannten Einwand vorweg zu nehmen: es geht hier nicht um das intellektuelle Zerreden der künstlerischen Tätigkeit. Denken und Tun müssen sich gegenseitig befruchten; sie bedingen sich gegenseitig. Sie dürfen sich aber nicht behindern.

 

All diese Probleme sind hier geschildert worden, weil die dem Anknüpfen an die geistigen Schaffensmächte im Wege stehen!

In der Vorausschau auf die komenden Jahrzehnte müssen diese Sachverhalte bedacht werden. Der Weg zum Verständnis der jungen Generation mu´ß erst noch gefunden werden. Nur mit dem Hinweis auf die bestehenden Institutionen ist dies nicht getan, denn die Jugend sucht die Wahrheit, das Licht, den Weg und das Leben.

 

Wer weiß, unter welchen Umständen die Eurythmie in den kommenden sozialen Geschehnissen ihre Überlebenswege wird finden müssen? Eitler Lokalpatriotismus ist bereits heute absolut fehl am Platze. Wie lange muß denn noch gegenseitige Befehdung auf der Tagesordnung stehen? Auch darf nicht länger die Aufführung von Abschlüssen wesentlichste Motivationsquelle sein, vor allem nicht diktierte Aufführungen (laut Stundenplan).

 

Es sind bewusst keine einzelnen Ausbildungsstätten genannt, um die Möglichkeit zu geben, sich nicht betroffen zu fühlen. Es wird an den verschiedenen Schulen ja auch unter verschiedenen Gesichtspunkten gearbeitet. In Bezug auf eine Verwirklichung Freien Geisteslebens als inneres Prinzip jeder Unterrichtsstunden gibt es nur geringe Unterschiede. Selbstverständlich ist auch bekannt, dass hier und dort auch unter dem alten Autoritätsprinzip mit sehr viel Elan gearbeitet wird. Dies ist so lange berechtigt, als sich Studenten finden, die auf diese Weise an die Eurythmie heranfinden. Es ist jedoch bereits so, dass eine Anzahl von Studenten anderer Wege bedarf und keinen Zugang zu dem herkömmlichen Ausbildungsgang finden. So hat sich bereits eine Freie Studien-Initiative für Eurythmie begründet. Es ist zu hoffen, dass jede Eigeninitiative, die guten Willens ist, in dem nötigen Maße Unterstützung findet. Zerspaltung und Dilettantismus entstehen, wo das Gespräch und die gegenseitige Hilfe fehlen.

 

Es sei noch etwas klargestellt: Der Verfasser hat sehr großen Respekt vor den Leitern der bestehenden Eurythmieschulen. Sie sind ihm Vorbild in seinem eigenen Eurythmiestudium. Aber was wird sein, wenn gerade die „Veteranen“ unter ihnen demnächst nicht mehr unterrichten können?

 

Die Frage wird dann sein, ob noch ein qualitatives Verständnis für die Eurythmie vorhanden sein wird, oder die Eurythmie bereits in die Dekadenz, dem Ballett entgegen geht. Ohne qualitativen Zugang zum Geistigen der Töne und Laute zu deren Offenbarung in dem sichtbaren Gesang und in der sichtbaren Sprache, wird ihr Weg sein. Die Angaben Rudolf Steiners haben nur noch die Funktion des Alibis.

 

Eine große Persönlichkeit aus der Eurythmie-Bewegung, die noch selbst bei Rudolf Steiner Unterricht bekommen hatte, sagte im Sommer 1979, dass sie den Eindruck habe, aus der Eurythmie sei „der Geist draußen“: Es ist charakteristisch für den Geist, dass er immer aufs Neue gefunden sein will. Den Geist der Eurythmie immer neu und wieder neu zu finden, zu diesem Bestreben wollte dieser Aufsatz einen Beitrag liefern.

 

Veröffentlicht in: Erde und Kosmos. Zeitschrift für anthroposophische Natur- und Menschenkunde. Schönau/ Schwarzwald. Heft 2/1980.