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J. W. Ernst

Was heißt “Sprachgestaltung”?

Dichtung als Kunst für das Ohr

Das Wort Sprachgestaltung als solches enthält ein methodisches Programm: die Dichtung so aufzufassen, dass der dichterische Autor als ein Möglichkeitenschöpfer erscheint, dessen Wortlaut-Gebild erst durch gestaltendes Sprechen zum sprachlichen Kunstwerk wird, vergleichbar dem Notenblatt, aus welchem erst der ausführende Musiker die Musik erschaffrt. In dieser Sprach-Gestalt also ist die Dichtung Kunst fürs Ohr.

Diese Auffassung vom Wesen der Dichtung ist der heutigen Kultur fast fremd. Denn was wir heute Dichtung zu nennen pflegen, ist uns zumeist ein Etwas, das in Büchern gedruckt steht, die kaum ein Mensch liest, obwohl diese Bücher noch ein gewisses, nicht selten aber auch ein mehr oder weniger belächeltes Ansehen genießen, und obwohl man – bisher noch – die Schuljugend ein wenig damit befaßt, welche oft genug mit wütender Ablehnung reagiert.

Ursache dieser Ablehnung ist, dass die Jugend heute die Dichtungen fast nicht mehr gesprochen oder laut gelesen zu Gehör bekommt, sondern beinahe nur noch stillgelesen , als Buchstabenhäufung, übers Auge . Diese Art der Kontaktaufnamhe läßt die Dichtung als Uninteressantes erscheinen, das jeden einigermaßen intelligenten Schüler empört. Wird das Werk dann auch noch literaturgeschichtlich oder literatur-kritisch-literarisch beschwätzt, was dann “Interpretation” heißt, so steigert sich die Empörung der Schüler, bis den heutigen Lehrern meist nichts anderes übrigbleibt, als in den empörten Spott der Schüler einzustimmen, und die Werke der Dichtung ihrerseits zu ironisieren – wie es viele Lehrer heute tun. Es führt natürlicherweise dazu, dass die Schüler dann sagen: ”Man hat mir in der Schule die Dichtung verekelt”.

Sogar die Bühnenkunst pflegt heutzutage die Dichtung kaum als Kunst fürs Ohr aufzufassen, obwohl doch die Bühne ihrer ganzen Natur nach allein mit gesprochener Sprache, nie mit still gelesener zu tun hat. Das Gestaltungsideal, das die europäische Bühne trotzdem entwickelt hat, ließe sie etwa als Übergewicht des Auges bei Zurückhaltung des Ohres charakterisieren. Die Zurückdrängung vollzieht sich mittel Unauffälligmachen des Gesprochenen durch Nichteingriff. Beabsichtigte Nicht gestaltung ist oft das theoretische Verhältnis von Bühnenkünstlern zur Sprache, zusammengefaßt in jener bekannten Anweisung: “Sprich natürlich, sprich, wie dir der Schnabel gewachsen ist!” – Diese Anweisung verbirgt freilich eine theoretisch-methodische Illusion , denn auf der Bühne so zu sprechen, dass es natürlich ist, dies ist keineswegs leicht, es kommt nicht von selbst, ist vielmehr hohe Kunst, für die kein Meister vom Himmel fällt. – Andererseits ist festzustellen, dass manche von Natur begabte Bühnenkünstler sich in ihrer Bühnenpraxis gar nicht an ihre theoretischen Irrtümer halten. Aber nur die besonders Begnadeten vermögen dies. Um einer Kultur das Gepräge zu geben, reichen indes die zufälligen Naturbegabungen nicht aus, es müssen gangbare Wege gefunden werden.

Rudolf Steiners Auffassung von der Dichtung als Kunst fürs Ohr schließt unmittelbar an die Anschauungen Goethes und mittelbar an Platon an, dessen Philosophie der Dichtung und der Kunst, die zu sprechen, zu den absoluten Gipfelungen des menschlichen Geistes zählen. (1)

Diese vorstehende Ansicht über Platon widerspricht der gangbaren Platonwissenschaft, die noch immer behauptet, Platon habe “die Dichtung austreiben wollen und kein Verständnis für Kunst gehabt”.

Aber diese Behauptungen sind im Grunde längst veraltet, beruhen auf überholten Fehlverständnissen früherer Philologen, wobei die späteren Übersetzer ihre Vorgänger unbesehen zu übernehmen pflegten. Eine gründliche Revision des Textverständnisses ergibt an allen Ecken und Enden, dass Platon vielmehr die höchste Entfaltung des Verständnisses für Kunst, die je ein Mensch erreicht hat, repräsentiert. Im Verhältnis zu Platon bedeuten alle neueren Versuche zu Schaffung einer Ästhetik oder Kunstphilosophie nur Tastschritte von Unerfahrenen.

Was sagt nun Platon über das Wesen der Dichtung? Was bedutet die Dichtung ihm, was ihre Niederschrift und Lese-Existenz, was ihre gesprochene Gestalt?

Es gibt einen Platon-Text, der darüber Auskunft gibt und zugleich auch erkennen läßt, wie die gesprochene Gestalt der Dichtung zu Platons Zeit klang. Der Text lautet:

”Dichterischer Text nur als abstrakter Inhalt, ohne die Musik der Stimme und der Sprache, welche erst der dichtung den Farbenreichtum und die Lebensfrische verleiht, was ist das? – Ist es nicht, als sei es schön ausgereiftes, aber überaltertes Obst, das unappetitlich aussieht und ungenießbar ist? – Stimmt absolut, sagte Glaukon.”

Platons Anschauung lautet also:

Erst die Musik der Stimme und Sprache verleiht der Dichtung den Farbenreichtum und die Lebensfrische. Ohne diese Musik der erklingenden Sprache, nur als abstrakter, logischer Inhalt ist die Dichtung ungenießbar, wie überaltertes Obst, geradezu garstig, unappetitlich.

Und eben darum ist sie in dieser gestalt den Schulkindern und der Jugend und endlich jedermann ein Greuel.

Dem dezidierten Urteil Platons entspricht in jeder Beziehung die Anschauung Rudolf Steiners, wie sie sich in den nachfolgenden grundsätzlichen Formulierungen kristallisiert:

“... man muß sich darüber klar sein, dass in demjenigen, was dem Rezitator vorliegt, ... nichts anderes da ist als eine Art Partitur, ... und dass die Kunst des Rezitierens und Deklamierens ebenso über dieses `Notenblatt` hinausgehen muß, wie etwa ... die ausübenden Musiker es tum müssen.”

“(Die im Text einer Dichtung implizite zugrunde liegenden) verstandesmäßigen Elemente ... werden umgeschaffen werden müssen in dasjenige, was durch die Sprachbehandlung, durch Tempo, Takt, Rhythmus, Steigerung oder Fallen des Tones und so weiter erreicht wird. Und das, was als Bild von der Phantasie entsteht, wird entstehen müssen dadurch, dass diese Sprachbehandlung es ist, aus welcher die Gestaltung der Bilder fließt.” (3)

Desgleichen in ähnlicher Gemeinschaftsveranstaltung mit Marie Steiner als Rezitatorin im Rahmen einer “Hochschulveranstaltung” in Darmstadt am 30. Juli 1921:

“Um etwas zu sagen prosaischen Inhalte nach, dazu ist das eigentliche Dichterische nicht da. Um den prosaischen Inhalt zu gestalten, um ihn umzugießen in Takt, Rhythmus, in melodiöse Thematik – in das, was erst hinter dem posaischen Inhalte liegt, dazu ist eigentlich die Dichtung als Kunst da.” (4)

“Auf den Wellen des Sprachlichen selbst, in der reinen Gestaltung des Rezitatorischen, in den hohen und tiefen Tönen des Deklamatorischen, in der melodiösen Gestaltung des Deklamatorischen muß sich die Sprachkunst wieder beleben. ...” (5)

Desgleichen in ähnlicher Gemeinschaftsveranstaltung mit Marie Steiner im Rahmen eines öffentlichen Kongresses in Wien, 7. Juni 1922:

“Wenn Dichtung gerecht wird der musikalischen Sprachgestaltung, dann bringt sie das Dichterische erst wirklich zur Offenbarung.” “Goethe (wußte...), dass das Prosaische nur etwas ist wie eine Leiter, auf der sich das Höhere, Geistig-Sinnvollere der Laut-, der Sprachbildhaftigkeit dann entwickeln muß.” (6)

All diese Worte Rudolf Steiners wollen offenbar jenen “Grundnerv” beschreiben, jenes “Ursprüngliche, Primäre”, um das es ihm bei der Kunst, Dichtung zu sprechen, geht. Es ist eingangs des erwänhten Darmstädter Vortrags ausdrücklich so benannt:

“... bei der erneuerung des geistigen Lebens, die angestrebt werden muß durch Anthroposophie, handelt es sich darum, das Intellektuelle wieder hinunterzusenken in die elementaren Kräfte des menschlichen Seelenlebens.” (7).

Was sind diese elementaren Kräfte? – Es sind offenbar die Seelenerlebnisse . Was Rudolf Steiner hier immer wieder nennt, “Takt, Rhythmus, melodiöse Thematik, Ton, Tempo”, und auch was er anderswo als “die Laute” zu bezeichnen pflegte – es sind alles Seelenerlebnisse, die durchs Ohr und durch den Bewegungssinn im Atem und durch andere Sinne wahrgenommen werden. Was also Rudolf Steiner auf den gesamten Kunstgebiete, und in der Kunst, Dichtung zu sprechen, insbesondere erstrebt, ist Rückführung des Erlebnisses auf die “ursprüngliche, primäre” Sinnesempfindung, aus der das intellektuelle Erlebnis sich herausgezogen – “abs–trahiert” – hat.

Deer Laut, der Klang und sein Ton, seine Dynamik, seine Intensität (“Entonik”), es ist alles Phänomen fürs Ohr, es ist hörbar. Demgemäß lautet der erste Satz in der Niederschrift (Marie Steiners) eines Sprechkurses Rudolf Steiners:

Nur wenn man hören lernt, kann man sprechen lernen.” (8)

Und in einem von Rudolf Steiner korrigierten Aufsatz zur Methodik, von Marie Steiner, heißt es:

“Auf den Ton hören lernen ist die einzig richtige Methode beim Sprechen.” (9)

Das ursprüngliche Sinneserlebnis im Sprachlichen, die Sinnesqualität, die ins Sprachorgan fällt, wird zusammengefaßt benannt mit einem Worte: der Laut . Er ist nicht der Buchstabe . Er ist auch nicht, was im Sprachlichen, Gesprochenen, dem Buchstaben entspricht. Laut ist vielmehr, was sprachlich-stimmlich laut wird. Dieses ist beim Sprechen ein in sich vielfach und höchst komplex beweglicher Klang der Stimme und Sprache . Diese Beweglichkeit ist unmittelbare Äußerung der Bewegungen der Seele. Sie ist Seele, die sich äußert.

Diese Beweglichkeit mangelt denjenigen sprachlichen Qualitäten, die mittels Buchstaben fürs Wiedererkennen – “Lesen” – fixiert werden. Die Buchstaben und was ihnen lautlich entspricht , bedeuten für die Laute der Sprache selbst so viel wie das Knochengerüst für die Gestalt des Menschen: in sich unbewegliche Grundlage der sprachlichen seelischen Bewegungen.

In diesem Sinne forderte Rudolf Steiner ein Zurückführen der inneren seelischen Bewegung, die in der dichtung sich Ausdruck schafft, auf den “ursprünglichen, primären” inneren Bewegungsorganismus aus Atem und Herzschlag. Und eben in diesem Sinne forderte er auch ein Zurückführen dieser innerlichen, seelischen Bewegung des Dichterischen auf die in einem anderen Sinne “innere” Bewegung, die sich innerhalb des Lautlichen auslebt, nämlich auf die tonlich-pulsierende Bewegung im vokalischen (silbischen) Klang der Stimme und auf die diesen Klang der Stimme konturierende Atem-Luftbewegung in den Konsonanten. “ Die Laute ”, das sind für Rudolf Steiner Bewegungs- Aufgaben , Gestaltungsaufgaben der Bewegung, tonlich-melodiöse, atemdynamische, entonisch-intensive Bewegung, zum Ziele der Wiederverbindung des anstrakten, vom Sinneserlebnis abgehobenen “innerlichen” Seelenlebens mit den “lebensfrischen, farbig-nuancierten” sprachlichen Sinneserlebnissen, die aus der körper-inneren Bewegungswelt von Atem, Puls und Stimme entspringen und “die Musik der Stimme und Sprache” – nach Platons altgriechischen Begriffen – konstituieren.

Anstelle der gedacht-innerlichen Seelenbewegung die körper-innere, nämlich die atmende und herzschlagrhythmische sprachliche Seelenbewegung, zu setzen – dies ist also das kühnee Unternehmen Rudolf Steiners im Bereich der Kunst, Dichtung zu sprechen. Eben dieses Unternehmen ist, was er als den anthroposophischen “Grundnerv” in diesem Kunstbereich und als erneuertes Ausgehen von einem “Ursprünglichen, Primären” ansah.

Die Gleichsetzung der ungreifbaren seelischen Innerlichkeit mit der körper-inneren Seele in Herzschlag und Atem und mit ihrer Laut-Werdung in der Sprache – die Methodik Rudolf Steiners ist im Grunde faszinierend und frappant einleuchtend. Aber sie ist eben wegen ihrer Kühnheit auch zahlreichen Miß- und Fehlverständnisses ausgesetzt.

Wenn man zum Beispiel in Rudolf Steiners Methodik “das Lautliche” als “das Buchstabenmäßige” fehlversteht, so wird man anstelle der vielfachen inneren Beweglichkeit alle mögliche innere Un-Beweglichkeit setzen, nämlich Singsang und Monotonie , Stimm-Aufblasung , Leiern und Klappern . Un-Musik, die nicht Sprache, aber auch nicht Musik ist.

Ein wichtiges theoretisches Mißverständnis trat Rudolf Steiner bei Lebzeiten entgegen, so dass er sich darüber äußern konnte. In dem genannten Wiener Vortrage sagte er:

“Man könnte das – und man hat es auch getan – man könnte das, was ich so aus dem menschlichen Organismus heraushole, als das Grundgesetz des Dichterischen, das Ineinanderwirken von Atem und Zirkulation, man könnte das mechanistisch, materialistisch finden. Der aber begreift nur das Walten und Wirken des geistigen Lebens in der Welt, der dieses (geistige. E.) Leben hineinverfolgen kann auch bis in die materiellen Gestaltungen; der hineinverfolgen kann das, was in dem Geist und in der Seele des Menschen lebt, bis dorthin, wo es sich auslebt, offenbart in den körperlichen Funktionen...” (10)

Zusammen mit Rudolf Steiner hat Marie Steiner an der vorhin kurz skizzierten Methodik mitgeschaffen und sie vertreten. Ihren eigenen, aus der künstlerisch-didaktischen Praxis entspringenden Beitrag zur Methodik hat sie mit außerordentlicher Prägnanz auf einem Blatte skizziert,. dass der Herausgeber von “Rudolf Steiner/ Marie Steiner: Methodik und Wesen der Sprachgestaltung” (GA 280) mit Recht auf die erste Seite dieses Buches gesetzt hat. Dort heißt es von Marie Steiners Hand:

“Das Erleben des Wortes führt zu Intimitäten des geistigen Erkennens, die wie eine Entsiegelung wirken der im Menschen verborgenen Geheimnisse. ... Bringen wir wieder den Gedanken in die Sprache zurück, die ihn geboren hat, in ihre Laute, ihre Lichter und Schatten, ihre Farben, ihre Bilder, ihren Pulsschlag, ihre Klanghebungen und –senkungen, ihre Bewegungstendenzen, ihre Tiefen-, Weiten- und Höhenrichtungen, ihre Zonen, ihre plastische, elastische, ballende, schnellende Kraft...”

Diesen methodischen Grundsätzen gemäß hat Marie Steiner nach Rudolf Steiners Tode (1925) ihre Inszenierungen am Goetheanum in Dornach (Schweiz) vollbracht, deren Nachklänge dort noch zu hören sind. Sie starb 1948.

Anmerkungen:

(1) siehe: Platon: ION/ Die Kunst, Dichtung zu sprechen. Übersetzt von J. W. Ernst. Freiburg 1975.

(2) (Staat, 01 B). Die Übersetzung dieser Textstelle ist begrifflich exakt, stilistisch gerafft und deutsch gesetzt. Die gangbaren Übersetzungen unterscheiden sich von der vorstehenden in den genannten drei Punkten.

(3) In: Rudolf Steiner: Die Kunst der Rezitation und Deklamation. GA 281. Dornach 1967. S. 67 und 84.

(4) ebd. S. 100.

(5) ebd. S. 106.

(6) ebd. S. 125

(7) ebd. S. 99

(8) Rudolf Steiner/ Marie Steiner: Methodik und Wesen der Sprachgestaltung”. GA 280. Dornach 1975. S. 14.

(9) ebd. S. 114

(10) GA 281, S. 124.

 

In seinem Buch “Die musischen Kunst – Schlüssel der Kultur” (Malsch 1980. 231 Seiten) setzt sich J.W. Ernst mit den im vorstehenden Aufsatz behandelten Gedanken und Methoden ausführlich auseinander. Das Buch ist erhältlich unter der folgenden Anschrift:

Dorothee Ernst-Vaudaux; Waldhofstraße 6; CH-4310 Rheinfelden oder auch im Lohengrin-Verlag.

Dorothee Ernst-Vaudaux kann auch Auskunft geben über die Möglichkeiten, die von Dr. J. W. Ernst in der Marie Steiner-Schule für Sprachgestaltung und dramatische Kunst gelehrte Methodik zu erlernen. Dr. J. W. Ernst verstarb im März 1986.