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Oskar A. Popp

Der Stumme und der Taube - Rußland und die Anthroposophie

Vorwort des Herausgebers

Das Interesse an den Entwicklungen im östlichen Europa ist an sich groß. Dennoch kann man nicht sagen, dass die Menschen im Westen und in der Mitte Europas von diesem Osten sehr viel wissen. Manch große Vorurteile sind noch zu überwinden.

Man kann es erleben, dass Menschen aus dem Westen drüben im Osten auftreten, ohne auch nur die geringsten Kenntnisse der dortigen Kultur zu besitzen. Solches Missionieren führt zu nichts Gutem.

Das vorliegende Buch ist für Menschen herausgegeben, die sich für die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft interessieren, bzw. ihr zumindest nicht ablehnend gegenüberstehen. Der Aufsatz von Oskar A. Popp handelt vorwiegend von der Geschichte der Theosophischen und der Anthroposophischen Gesellschaft (bzw. Bewegung) in Rußland.

Vor einiger Zeit erschien im Novalis-Verlag, Schaffhausen das schöne Werk von Viktor B. Fedjushin «Rußlands Sehnsucht nach Spiritualität». Auf dieses kompetente Werk möchten wir hier ausdrücklich verweisen. Es ist die erste umfassende Darstellung der eben genannten Geschichte.

Die Arbeit von Oskar A. Popp stellt diese Geschichte der anthroposophischen Bewegung in Rußland in sehr prägnanter Kürze dar und bringt eine ganz Fülle interessanter Beziehungen und Gedanken an die Oberfläche, die kennen zu lernen jedem an der Zukunft des Ostens wahrhaft interessierten Menschen eine innerliche Pflicht sein müsste.

Wir hoffen, nur dieser Publikation ein wenig mitzuhelfen, dass eine spirituelle Brücke der Zusammenarbeit, die zu einem vertieften gegenseitigen Verstehen führt, aufgebaut werden kann. Sie könnte gerade zum Ende dieses Jahrtausends wichtiger denn je sein.

Rendsburg, im September 1990                                                                                             Arfst Wagner

Die nachstehenden Ausführungen gehen zurück auf Gespräche und Briefwechsel mit Dr. Hans Berendt, der viele Jahrzehnte als hochgeschätzter Pädagoge in Bad Godesberg tätig war. Bereits als Oberprimaner durfte er 1904 in Köln einen Vortrag von Rudolf Steiner hören.  Durch ihn erhielt er später die Anregung, sich mit der Aufgabe des Slawentums für die Vorbereitung der sechsten nachatlantischen Kulturperiode zu befassen und das russische Geistesleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Als Hans Berendt 1971 in die geistige Welt abberufen wurde, lagen noch nicht genügend Unterlagen für eine Veröffentlichung über das Thema vor. Nachdem es in den folgenden Jahren gelang, ausreichendes Arbeitsmaterial zu beschaffen, vergriffene Bücher durchzusehen und auch noch einige Zeitzeuge zu befragen, wird nun diese Arbeit, auch im Gedenken an Hans Berendt, dem Leser vorgelegt. (Die Eigennamen wurden so wiedergegeben, wie dies phonetisch bei den unterschiedlichen Lautwelten der beiden Sprachen möglich ist. Es kommt darauf an, zu erkennen, wer gemeint ist. In Büchern habe ich z. B. den Namen Solowjow in 17 (!) verschiedenen Schreibformen gefunden.

Inhaltsverzeichnis

Gedanken zur sechsten nachatlantischen Kulturepoche

"Bannerträger Anthroposophie"

Faustisches russisches Geistesleben

Awwakum, der Heilige

Der vergessene Skovoroda

Weltgeschichtliche Entwicklung

Tschaadajew und Belinski

Unvollendeter Abschluß

Wilde Jahre

Kunde von Rudolf Steiner

Mystisches Kaleidoskop

Der "Turm"

Die "Mystische Höhle"

Die Russische Anthroposophische Gesellschaft

Festgeschriebenes Wort

Tönende Botschaft

Symbolische Gestalten

Eingriff der Gegenmächte

Alexander Block

Andrej Belyi

Nikolai Berdjajew

Geisteskmpfe

Seit dem Beginn unserer fünften nachatlantischen Kulturepoche sind erst 572 Jahre vergangen und vom Anfang de sechsten Kulturperiode trennen uns noch 1588 Jahre. Sollen wir uns da schon Gedanken hingeben über den vorletzten Entwicklungszeitraum des nachatlantischen Zeitalters, sollen wir uns gar Sorgen darüber machen, ob er in eineinhalb Jahrtausenden so erstehen wird, wie die hohe geistige Weltenlenkung ihn geplant hat? Da hier unter "wir" die Schüler Rudolf Steiners gemeint sind, muss dies sogar geschehen. Jede Kulturperiode wurde schon tausend Jahre vor ihrem Beginne vorbereitet, und die Impulse, die sich in ihr entfalten sollten, lagen noch längere Zeit keimhaft in der vorhergegangenen Epoche. Die Zeiger der Weltenuhr zählen andere Zeiträume als sie uns, den immer wieder Sterblichen, bewusst erfahrbar sind.

"Bannerträger Anthroposophie"

Diese Vorbereitung steht aber auch bei der sechsten nachatlantischen Kulturperiode unter ganz besonderen Bedingungen. Ihre Aufgabe ist klar: Sie soll nach der Erringung der Bewusstseinsseele im Menschen das Geistselbst entwickeln. Und wo wird das geschehen? Rudolf Steiner hat entgegen vielfältigen Aussagen in der anthroposophischen Literatur von der sechsten Kulturperiode niemals dezidiert als der "russischen" gesprochen. Im Vortrag vom 8. Juli 1906 in Leipzig (GA 94) sagte er zwar: "Die sechste Kulturperiode ruht noch in keimhaftem Zustand im Osten Europas." Später präzisierte er diese Angabe auf die "Slawen", unter denen er Russen, Polen und Tschechen verstand. In ihnen ruht zwar der Keim, aber sie vermögen ihn nicht aus eigener Kraft allein zur Entfaltung zu bringen. Dazu müssen ihnen Menschen unserer Epoche helfen.

"In der fünften Kulturepoche muss ein Geistiges aus eigener Kraft errungen werden, in der sechsten Kulturperiode werden die Menschen kommen und das Erarbeitete, das Errungene annehmen als ihre Anschauung, als ihr Erlebnis, aber als etwas, was sie nicht selbst errungen haben. ... Dann wird man sich klar darüber sein, dass in diesem slawischen Element etwas Empfangendes liegen muss..." (Stuttgart, 13.02.1915. GA 174 b).

Für die Vorbereitung und Durchführung der Aufgabe sagt Rudolf Steiner in dem bereits angeführten Vortrag vom 8. Juli 1906: "Der Bannerträger dafür ist die Anthroposophie".

Diese Aufgabe mag uns übermenschlich erscheinen, ist doch auch in uns das Geistselbst allenfalls erst keimhaft veranlagt. Aber Rudolf Steiner hat betont, es bedürfe dazu nur, Anthroposophie zu betreiben.

"Nichts anderes heißt Anthroposophie treiben als: wissen, dass hier hingedeutet wird auf die fünfte menschliche Entwicklungsepoche der nachatlantischen Zeit; wissen, dass wir in unserer Zeit, wo man am tiefsten heruntergestiegen ist n die Materie, in das spirituelle Leben wieder hinaufschreiten sollen... Und wenn wir diesen Weg gehen, bringen wir in den sechsten Zeitraum hinein das richtige spirituelle Leben der Weisheit und der Liebe. Dann wird das, was wir uns erarbeiten als anthroposophische Weisheit zum Liebe-Impuls des sechsten Zeitraumes." (Nürnberg, 20. Juni 1908. GA 104).

Seit Rudolf Steiner zum letzten Mal über die Aufgaben des Slawentums sprach, sind fast sieben Jahrzehnte vergangen. Die Welt hat eine Veränderung erfahren, wie se damals unvorstellbar war. Es ist nicht wie früher möglich, die Entwicklung durch "menschheitsgeschichtlich notwendige Kriege" in die richtigen Bahnen zu lenken. Heute können die Schlachten nur auf geistigem Felde ausgetragen werden, und das geschieht ja auch schon seit langem.

Einen solchen entscheidenden Geisteskampf hat Rudolf Steiner für unsere Zeit vor dem Jahrtausendende vorausgesagt. Dazu wünschte er sich seine Schüler nicht nur in Mitteleuropa, das seine große Aufgabe im Weltenwerden zu verfehlen droht, sondern auch in anderen Ländern und besonders - im Hinblick auf ihre künftige Mission - unter den slawischen Völkern. Er hat ihre Volksseelen durchleuchtet und ausführlich vor allem das russische Geistesleben gewürdigt. In Rußland selbst wie auch in Polen konnte er dagegen nicht sprechen. Aber wie viele vorherbestimmte und zukunftsträchtige Begegnungen gab es zwischen ihm und russischen Menschen! Sie kamen nicht nur zu den beiden Vortragszyklen nach Helsingfors, sondern auch in viele weit entfernte Städte, und sie bildeten eine große Gruppe beim Bau des ersten Goetheanums. Und stammte nicht Marie von Sivers aus dem damalig russischen Polen?

Faustisches russisches Geistesleben

Im Suchen und Streben ist das russische Geistesleben wie das deutsche, im Finden und Erkennen jedoch anders. Da sich der enge Begriff "Philosophie" als "Liebe zur Weisheit" seit Heraklit bis heute auf das breite Feld von mathematischer Logik bis zur Dichtung ausgeweitet hat, sind nicht nur die russischen Denker, Dichter und Schriftsteller, sondern auch viele große Wissenschaftler und Forscher in diesem Sinne Philosophen. Sie sind alle, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, letztlich Suchende nach dem Verhältnis des Menschen zur immateriellen, überirdischen Welt, zu Gott und - das ist nun für viele von ihnen ebenso bezeichnend wie einzigartig - zum Christus. Viele von ihnen haben auf dem Grunde ihrer Seele etwas Mystisches. Gar manche wurden berührt von der alten Theosophie. Denen ist "Gottesweisheit" mehr als "Liebe zur Weisheit". Mögen sie in ihre Lehren auch noch so originell sein - ob Westler oder Slawophile - über allen Unterschieden und Gegensätzen liegt über ihrer apokalyptischen Sicht eine Erwartungssehnsucht, ein Hoffnungsimpuls, der Strahlenkranz Auroras, der Göttin der Morgenröte. Darin ist aber auch ihr Sendungsbewusstsein begründet, ihr alter Traum, der auch in de heutigen Sowjetmenschen nicht erloschen ist.

Außer den Denkern und Dichtern gab und gibt es in Rußland auch eine Menge von eigenartigen Individualitäten, von Erweckten und Schauenden, Predigern und Propheten, Heiligen und Ketzern, von sich kasteienden und wohllebenden Mönchen, von Pseudo-Madonnen und Sibyllen. Kaum je hat es irgendwo ein so absonderliches, schillerndes und emphatisches Weben und Streben gegeben wie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und besonders in den folgenden siebzehn Jahren beim Tanz auf dem Vulkan, dessen Eruption man ahnte. In dieses geistig-seelische Spannungsfeld versuchte Rudolf Steiner hineinzuwirken.

Trotz seiner Originalität wäre aber ohne das deutsche das russische Geistesleben nicht das geworden, was es war. Erscheint es nicht wie symbolisch für das den deutschen und russischen Menschen umtreibende Streben, dass es nur in diesen beiden Völkern eine Faustsage gibt? Sie, die sich, wie Joseph Görres sagte, bei uns an den Schwarzkünstler Dr. Johannes (richtig jedoch Georg) Faust "anhängt" der von 1480 bis 1538 lebte, tat dies im Russischen bei Sawwa Grudkyn, einem unbescholtenen Jüngling, der ein Jahrhundert später lebte. Sawwa gerät, als er von zuhause fortzieht,  in die Gewalt eines jungen, mit einem alten Mann verheirateten Weibes, das ihm keine Nacht Ruhe lässt. Als er sich ihr in der Nacht vor dem Tage von Christi Himmelfahrt versagt, versucht sie ihn zu vergiften und überredet ihren Mann, ihn zu verstoßen. Bald aber sehnt sic Sawwa wieder nach ihr zurück und schwört, wer immer ihn wieder mit dieser Frau vereinen würde, dem gehöre seine Seele, und wenn es der Teufel wäre. Dieser erscheint sofort als vornehm gekleideter Herr und erfüllt das Begehren, nachdem Sawwa "eine kleinen Pakt" unterschrieben hat. Nun "gedenkt er weder der Feiertage noch der Sonntage und wälzt sich ohne Gottesfurcht unersättlich im Schmutze der Unzucht." Aber während der deutsche Faust in der Sage sich als kühner, herrischer Tatmensch bis zuletzt zu behaupten versucht, nimmt sein russisches Ebenbild aus freiem Entschluss "im entscheidenden Augenblick zu den höheren Mächten seine Zuflucht und beschließt in demütiger Selbsterniedrigung sein Leben als Mönch im Kloster des Wunders des Erzengels Michael" (nach Konrad Bittner). Da haben wir nun doch den entscheidenden Unterschied.

Awwakum, der Heilige

Bevor wir uns den bedeutenden russischen Philosophen zuwenden, muss eines Menschen gedacht werden, der zu einer großen, bis heute unvergessenen russischen Symbolgestalt wurde. Es ist der Protopope, der Erzpriester Awwakum, der ebenso wie der russischen Faust im 17. Jahrhundert, das ja in Rußland noch zum Mittelalter zu zählen ist, unter dem Patriarchen Nikon lebte. Dieser Nikon, 1605 als Bauernsohn geboren, erst im reiferen Alter Mönch geworden, war der letzte russische Kirchenfürst, der auch in seiner Kirche den Primat forderte. Als er auf Wunsch des Zaren Alexei Michailovitsch, dem Vater Peters des Großen, 1652 zum Patriarchen gewählt wurde, hatte er die Bedingung gestellt, dass alle, vom schlichtesten Seelenhirten bis zum Herrscher des russischen Reiches ihm zum Gehorsam verpflichtet seien. Er schuf sich dadurch Feinde nicht nur im weltlichen Bereich, sondern selbst unter der Geistlichkeit. Unnachgiebig bis zum letzten Tag in seiner Verbannung, hatte er schließlich statt des angestrebten Zieles das Gegenteil erreicht, denn von nun an wuchs die Abhängigkeit der Kirche vom Staat, eine Entwicklung, die auch ohne ihn nicht aufzuhalten gewesen wäre.

Ungleich schwerwiegender war die Reform der liturgischen Vorschriften, die Nikon durchzusetzen versuchte. Obwohl es dabei um uns westlichen Europäern so unwichtig erscheinende Einzelheiten ging, ob das Kreuzzeichen mit zwei oder drei Fingern ausgeführt oder das Alleluja zweifach oder dreifach zu singen sei - Unterschiede, die Nikon willkürlich auf angeblich unrichtige Übersetzungen der griechischen Texte zurückführte - so wehrten sich doch viele gegen solche Veränderungen. Sie alle sammelte Awwakum um sch. Durch die fanatische Haltung der "Altgläubigen" kam es dann zur Kirchenspaltung, die bis zur Oktober-Revolution 1917 bestand.

Petrovitsch Awwakum, der um 1620 in einem Dorfe an einem Nebenfluß der Wolga als Sohn eines Popen geboren wurde, hat in seiner Autobiographie, der ersten in der russischen Literatur, seine Auffassung verteidigt. Er sah, und das ist bezeichnend für den russischen religiösen Fanatismus, in den geringfügigen, rein äußerlichen Reformen, den Antichrist am Werk. Er und seine Anhänger hatten Unsägliches zu erleiden. Schon vor der Aktion Nikons hatte Awwakum wegen seines überstrengen Festhaltens am Ritual der Kirche Haus und Hof verloren. Sein Leben vollzog sich später in finsteren Kerkern, an schwere Ketten geschmiedet, geschlagen und gefoltert, oder auf jahrelangen Märschen durch Sibirien, an dessen großen Flüssen er, immer Weib und Kinder zur Seite, die Schiffe mit stromaufwärts ziehen musste. Er ertrug alles in asketischer Haltung, weil ihn n der Jugend zweimal die Mutter Gottes erschienen war und er später in der allergrößten Not oft durch unerklärliche, verbürgte Wunder weiterhin ihren Beistand erlebte. Es war ohne hin ein schier unfassbares  Wunder, dass er nicht nur die unvorstellbaren Schmerzen und Qualen so lange überlebte, sondern sich, wo immer es möglich war, auch noch seiner leidenden Schicksalsgenossen annahm, sie tröstete und selbst den Zaren in seine Gebete einschloss. Um 1675 durfte er schließlich nach Moskau zurückkehren, wo er nach dreijährigen Fußmärschen mit seiner Frau eintraf. Aber alsbald wurde er nach Pustoserk am nördlichen Eismeer verbannt. Dort traf er Tausende seiner Glaubensbrüder wieder. Am 14. April 1682 starb er in den Flamen der Scheiterhaufens. So lange er es vermochte, hielt er seinen rechten Arm empor mit den zwei ausgestreckten Fingern, wie es nach der Überlieferung richtig war. Mit den Worten "So ihr in diesem Zeichen beten werdet, werdet ihr in Ewigkeit nicht verderben" starb er. Welch ein Kontrast zu dem heute wieder demonstrierten Symbol der zwei Finger als Siegeszeichen und zu den damit verbundenen Parolen! Vor ihm hatten sich schon Hunderte seiner Anhänger selbst verbrannt. Heute gehen die Meldungen von einer Selbstverbrennung eines gegen was auch immer aufbegehrenden Menschen um die Welt. In Rußland verbrannten sich von 1666 bis 1691 über 20000 Altgläubige. Noch im 19. Jahrhundert gab es, obwohl sie gar nicht mehr verfolgt wurden, dutzende solcher Märtyrer; der letzte starb 1897 in den Flammen.

Wir haben Awwakum und seine Anhänger nicht etwa so ausführlich geschildert, weil sie mit ihrer Auffassung im recht waren. Wenn auch hinter den unterschiedlichen liturgische Einzelheiten tiefere Probleme lagen, so waren doch auch diese nicht so schwerwiegend, dass es über sie zum Schisma kommen musste. Es sollte vor allem gezeigt werden, welche Kraft die gläubigen Menschen früherer Jahrhunderte aufzubringen vermochten im Ertragen von Leiden, die sie sich oft sogar selbst auferlegt hatten.

Der vergessene Skovoroda

Von ganz anderer Art als der asketische Erzpriester war der erste bedeutende und zugleich der einzige große Philosoph des 18. Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts, das nach dem Tode Peters des Großen durch die schreckliche Verderbnis der Sitten in der Oberschicht, vor allem unter Katharina II., der Privilegierung des Adels und der wachsenden Ausbeutung der leibeigenen Bauern, zu den dunkelsten Epochen des russischen Geisteslebens zählt. Grigori Savic Skovoroda, der von 1722 bis 1794 lebte und heute unbegreiflicherweise weitgehend vergessen ist, ließ sich von den Zeitgenossen nicht beeindrucken. Die Grünen und Alternativen unserer Tage hätten sicherlich ihre Freude an ihm gehabt, zog er doch als heiterer Lebenskünstler und anspruchsloser Naturfreund die letzten 30 Jahre seines Lebens immer fröhlich mit dem Wanderstab in der Hand von Ort zu Ort durch die ganze Ukraine. Auch die Flöte, die er stets bei sich trug und auf der er allen Menschen, denen er begegnete, ein Liedchen blies, hätte wohl die Grünen noch erheitert. Ob es aber bei den von ihm anschließend aus der immer mitgeführten Bibel verlesenen Worten auch so gewesen wäre, mag dahingestellt bleiben.

Aber auch dieser hochgelehrte Autodidakt, den man bald in seiner Heimat den "christlichen Sokrates" nannte, hatte zuvor schwere Glaubenskämpfe durchzustehen, Ungewissheiten und Zweifel zu überwinden, ehe er zu seinem berühmt gewordenen "Wechselgespräch über das Wort: Erkenne dich selbst" kam, von dem der orthodoxe Arseniev 1936 sagte: "Es ist ein Poem der Christusinbrunst, ein Lobgesang auf den göttlichen Logos, den wahren Menschen".

Zuvor war bei Skovoroda manches widersprüchlich, vor allem die Frage - die ja so viele russische Philosophen und Kirchenlieder umtrieb - ob Christus nur im Geist oder auch im Fleisch erschienen sei. Klarheit kam ihm, als er einer nicht zu unterdrückenden inneren Eingebung folgend 1770 nicht nach Kiew ging auf seinen Wanderungen, wo - was er nicht wußte - die Pest wütete. Als er suchend fragte, wer ihn da bewahrt habe, erschien ihm "Gott in einer mystischen Begegnung". Als armer Wanderer, der nie ein Obdach sein eigen nannte, starb er am 29.Oktober 1794 bei Sonnenaufgang auf einer Wiese.

Einige seiner Zeitgenossen und auch spätere Kritiker haben Skovoroda vorgeworfen, er habe kein klares Verhältnis zur Kirche als der Stiftung Christi gefunden. Nun ist jedoch bei vielen russischen Dichtern und Denkern diese Einstellung doppelsinnig. Sie verstehen zuweilen unter Kirche die zwar von Christus begründete, aber doch äußerlich-weltliche Organisation, natürlich ohne die Bejahung des Papstes als Stellvertreter Christi; oft betrachten sie die Kirche aber auch als geistiges Gebilde, als den mystischen Leib Christi. Auch für Skovoroda, der sein Weltbild in "Die drei Ringe" zusammenfasst, dem äußeren des Makrokosmos und dem mikrokosmischen um den Menschen herum, der wiederum umgeben ist von der geistigen Christus-Sphäre, ist der Christus zwar der uranfängliche Logos und das göttliche Urbild des Menschen, aber auch der Stifter der Kirche, dem nachzustreben ist. Wie dies nicht geschehen könne, hat er in einer kleinen Arbeit dargelegt, der er den seltsamen Titel "Gespräch genannt zwei" gab. Da wünscht sich einer der beiden, in einer Person zugleich Papst und König zu sein. Der andere, Michael genannt, antwortet ihm:

" Was suchst du in der Papstwürde? Geist? Oder Fleisch? Den göttlichen Geist Christi kannst du sogleich mit Blitzesschnelle erhalten. Aber Gemächer, Paradewagen, Gold und Silber ... all das ist Fleisch. ... Rühr das nicht an! Im Aufsteigen, im Hohen liegt das Göttliche. Das ist dein Anteil. Die wahre Einheit und Identität ... besteht in der Teilnahme nicht am Fleische, sondern am Geiste. - Willst du König sein? Was nützen dir Öl, Krone, Zepter und Garde? Das st Schatten und Maske. Erwirb dir von oben her ein königliches Herz. Auf diese Weise wirst du eins mit dem König."

Kein Wunder, dass der Vatikan dazu meint, Skovoroda habe in der katholischen Kirche den "Felsen Petri" nicht erkennen können. Aber das vermochten ja wohl auch alle anderen russischen Philosophen außer Solowjow und Iwanow nicht. Natürlich lassen sich auch bei Skovoroda Widersprüche feststellen. Aber ist das nicht bei allen Philosophen im Zuge ihrer geistigen Entwicklung so?

Weltgeschichtliche Entwicklung

Wenn in diesen Ausführungen darzustellen versucht wird, welche Ansätze die großen russischen Denker, ohne dass sie es alle bewusst wollten, zur Vorbereitung der sechsten nachatlantischen Kulturperiode leisteten. deren hehre Mission ihr Volk dereinst von außen her in sich aufnehmen und durchtragen soll, so kann natürlich bei ihnen nicht dem Worte nach, wie Rudolf Steiner es gefordert hat, von "Anthroposophie treiben" gesprochen werden. Diese gab es erst nach dem Ende des finsteren Zeitalters. Aber bei den russischen Philosophen zeigte sich doch schon das Suchen nach dem Christus, nach seiner Bedeutung, ja zuweilen sogar erahnten sie sein Wiedererscheinen. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, sie alle aufzuzählen, geschweige denn eingehend zu würdigen. Wir beschränken uns zunächst auf Tschaadajew und Belinski.

Mit ihnen begann eine intensivere Hinwendung zum Westen. Sie stehen aber auch am Anfang der immer stärker werdenden inneren geistigen Spaltungen, die sich in äußeren Bewegungen und Richtungen manifestierten und bald revolutionären Charakter annahmen. Ursprünglicher Anlass zu dieser Entwicklung war Napoleon.

Die durch ihn erfolgte traumatische Verletzung der russischen Seele als Moskau brannte, gebar zwar nach dem Sieg über ihn nicht das Erwachen des ganzen Volkes, aber nach den ersten chaotischen Geburtswehen und der Niederwerfung des Dekabristenaufstands, mit dem Nikolaus I. seine Herrschaft begann, jene starke führende Schicht, die - dem Sinn des Wortes nicht gerecht werdend - von 1860 rückwirkend "Intelligenzia" genannt wurde. Von ihren so unterschiedlichen Mitgliedern wurde, natürlich unter der Voraussetzung der unglücklichen Entwicklungen im übrigen Europa, die Weltgeschichte entscheidend beeinflusst.

Hans von Rimscha hat in seiner "Geschichte Rußlands", einem der besten Werke über dieses große Thema, in einer graphischen Darstellung die beiden Wege aufgezeigt, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts unter den Romanows, Nikolai I., Alexander III. und Nikolaus II. auf der Seite der weltlichen Macht bis 1917 zu den "Zehn Tagen, die die Welt erschütterten" führten.  Der eine, von den Slawophilen ausgehend mit dem wechselhaften Tschaadajew, Chomijakow, Aksakow und anderen Philosophen, mündete letztlich im Panslawismus. Der andere, jener der Westler, spaltete sich mehrfach über Granowski in den Liberalismus bis Stolypin, daneben über den abtrünnigen Slawophilen Lawrow und den Narodnikis bis zum Sozialismus Kerenskis, während der dritte, von Belinski ausgehend, über Herzen zum Marxismus führte und sich am Ende nochmals in die Menschewiki unter Martow und die Bolschewiken unter Lenin aufteilte. Aus allen diesen so unterschiedlichen Richtungen entstand die heutige Union der sozialistischen Sowjetrepubliken.

In ihr ist der alte Welterlösungsgedanke, jener Traum, von dem die Slawophilen besessen waren, immer noch lebendig, wenn auch nicht im religiös-christlichen Sinne, so doch neben der militärisch gesicherten größtmöglichen Ausdehnung und der materiell-wirtschaftlichen Machtentfaltung in einem mystischen Sendungsbewusstsein. Auch der Kommunismus ist eine Religion. Die Prophezeiung Solowjows, das Slawophilentum werde einmal zum "neuen Islam" werden, scheint vor ihrer Erfüllung zu stehen.

Tschaadajew und Belinski

Peter Jakovlewitsch Tschaadajew wurde 1794 geboren, in dem Jahr, in dem Skovoroda starb. Als Sohn einer hochgestellten Adelsfamilie nahm er an der Schlacht von Borodino teil und zog mit den die geschlagenen Franzosen verfolgenden russischen Truppen weit nach Westen. Geblendet vom französischen "Esprit" kehrte er zurück, wurde, wie es damals in seinen Kreisen üblich war, für einige Jahre Freimaurer. Nach verschiedenen Auslandsreisen lebte er von 1826 an zunächst in selbstgewählter Isolation in Moskau. Dort schrieb er in französischer Sprache seine berühmt gewordenen "Lettres philosophiques", die "Philosophischen Briefe". Als sie unter dem harmlos erscheinenden Titel "Philosophie der Geschichte" 1836 mit Zustimmung des Verfassers in russischer Übersetzung in der Moskauer Zeitschrift "Das Teleskop" erschienen, gab es wegen der darin ausgesprochenen scharfen Kritik an der seitherigen russischen Politik einen Skandal. Die Zeitschrift wurde verboten, ihr Herausgeber Nadeznin ans Weiße Meer verbannt und Tschaadajew von Zar Nikolaus I. für wahnsinnig erklärt, unter Hausarrest gestellt und täglich von einem Irrenarzt untersucht. Man sieht, die moderne sowjetische Therapie in solchen Fällen ist nicht neu. Er antwortete darauf mit seiner "Apologie eines Wahnsinnigen.

Tschaadajew wurde der erste russische Denker, der Rußland zur Selbsterkenntnis aufrief und dazu, seine geistige Isolation aufzugeben, zur Abkehr von dem Welterlösungswahn und zur Entwicklung eines Nationalbewusstseins. Einige Jahre schwankte er, ob er nicht zum Katholizismus übertreten sollte, tat dies aber im Gegensatz zu Solowjow nicht. Stattdessen setzte er sich leidenschaftlich nicht nur für die Vereinigung der Ost- mit der Westkirche, sondern auch für die Eingliederung des Protestantismus, zu einer Wiedervereinigung aller Christen ein. Darüber hinaus war er der erste, der Christus in allen anderen großen Religionen der Welt anwesend und wirksam sah. Das war Häresie. Nur Puschkin, den die Russen damals - wie auch noch heute - ihren größten Dichter nannten und der Tschaadajew als treuer und begeisterter Freund ergeben war, rettete ihn vor erneuter Verfolgung. Der Philosoph resignierte und verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in geruhsamer Untätigkeit. m Karsamstag des Jahres 1856 starb er ohne Krankheit eine Stunde nach der Beichte und dem Empfang der Kommunion. Tschaadajew hat im Gegensatz zu Solowjow während seines Lebens nie davon gesprochen, dass Rußland bei der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden eine besonders große Rolle zu spielen habe. Aber eine seiner letzten Aussagen war, Rußland sei dazu ausersehen, "der Welt irgendwann wichtige Lehre zu geben". Hatte er vielleicht den Keim im Slawentum erahnt?

Der andere große Philosoph des 19. Jahrhunderts, der Westler Belinski, hat die aufgezeigte Entwicklungslinie bis hin zum Sowjetkommunismus in besonders eindringlicher Weise initiiert. Er war der erste, der die Bekenntnisse zum Christus aus der glaubens-theoretischen und ichbezogenen Haltung in die Liebe zur Menschheit, zur Bruderliebe emporhob. Da verwundert es nicht, dass er von vielen seiner Zeitgenossen, aber auch heute noch zuweilen, sicher nicht absichtslos, als religionsfeindlich, ja sogar als gottlos bezeichnet wurde. Welch ein Fehlurteil!

Vissarion Grogorowitsch Belinski wurde 1811 in einer kleinbürgerlichen Familie geboren. Seine akademische Laufbahn musste er abbrechen, als eine von ihm verfasste Tragödie "Dimitri Kalinia", in der er die Frage behandelte, ob Gott die Welt lenke oder ob er seine Welt dem Teufel preisgegeben habe, von der Zensur als "unsittlich" verurteilt wurde. Er wurde Journalist und Literaturkritiker. Aber das füllte sein Leben nicht aus, in dem er ein ewiger Sucher blieb. Vom 19. Lebensjahr an stand er stark unter dem Einfluss von Schelling, Fichte und Hegel. Mit 23 Jahren schrieb er in den "Literarischen Träumereien", für die Erneuerung der Menschheit sei es notwendig, aß in das Chaos des Todes und der Verwesung das gnadenreiche Wort des Menschsohnes ertöne: "Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken." Die "vollkommene Gleichheit aller Menschen vor dem Kreuze des Gekreuzigten im Sinne einer christlichen Verbrüderung", die er damit zugleich forderte, das waren neue und mutige Töne in seiner Zeit. Als dann Gogol dreizehn Jahre später, 1847, in seinem Buch "Auswahl aus dem Briefwechsel mit Freunden" unter anderem die Gutsbesitzer nicht zuletzt aus religiösen Gründen zu härterer Behandlung der Bauern animierte, schreibt ihm Belinski den empörten, berühmt gewordenen Brief, in dem er Gogol vorwirft,  dass er "die barbarischen Gutsbesitzer lehrt, von den Bauern mehr Geld z verlangen", und das unter Hinweis auf Christus, der ja doch gerade im Gegenteil "als erster den Menschen die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet hat". Seine Wut steigert sich zur Raserei, die ihn so erschüttert, dass er ein Jahr später, erst 37-jährig, seiner Lungentuberkulose erliegt. Dostojewski, der ihn bewunderte und stark von ihm beeinflusst blieb, nannte ihn den ersten großen Sozialisten Rußlands, der zwar die Unvereinbarkeit des Sozialismus mit der kirchlich-christlichen Lehre nicht verkant habe, in dem aber "doch das hell leuchtende Antlitz des Gottmenschen weiter leuchtete". Lenin bescheinigt ihm die freiheitsdürstende Geistesverfassung der leibeigenen Bauern, unterschlug aber seine Haltung zu Christus. Heute gilt Belinski in der Sowjetunion als einer der ersten Kämpfer für die revolutionäre Volkserhebung.

Unvollendeter Abschluß

Die große Schar der russischen Philosophen, Denker und Dichter des 19. Jahrhunderts beschließt eine Gestalt, die sich über sie alle hinaushebt durch ihr Erkennen des "Zusammenlebens des übersinnlichen Christus mit dem sinnlichen Jesus" (Rudolf Steiner). Daraus entstand nicht nur das große Verlangen Wladimir Solowjoffs nach einer Vereinigung der Ostkirche mit Rom, sondern auch sein Traum von einem durchchristeten Staat. Als Philosoph überragte er alle. Menschlich sammelten sich in ihm wie in einem Hohlspiegel alle Gegensätzlichkeiten und Drangsale der russischen Seele.

Wladimir Sergejewitsch Solowjoff wurde am 16. Januar 1853 in Moskau als Sohn eines bekannten Gelehrten geboren. Er war ei äußerst frühreifes Kind, zeigte vielseitige Begabungen; aber alles, was er früh aufnimmt an wissenschaftlichen und religiösen Belehrungen, befriedigt ihn nicht. Er reagiert seine Unzufriedenheit ab durch wilde Jugendstreiche und wird erst ruhiger, als er mit neun Jahren seine erste Sophien-Vision hat. Mit 13 Jahren kehr er sich förmlich vom Christentum ab. 1869 beginnt er sein Studium, zunächst Mathematik und Physik, dann Philologie und Geschichtswissenschaft. Aber die in seinem Inneren ruhende Philosophie drängt immer mehr ans Licht. Nach der Überwindung des Atheismus spürt er, dass an Christus nicht nur geglaubt, sondern dass er "begriffen und erkannt werden muss". Ein einjähriger Besuch der Geistlichen Akademie in Sergiev-Posad bringt ihn nicht weiter. Er wird freischaffender Dichter und Philosoph, bald darauf geachteter Hochschullehrer in Petersburg. Aber schon mit 28 Jahren bricht er seine glänzende Laufbahn jäh ab. In öffentlicher Rede nach der Ermordung Alexanders II. bittet er, der von Jugend an gegen die Todesstrafe war, den neuen Zar, die Terroristen nicht dem Henker, sondern der Kirche zur Läuterung zu übergeben. Das kostet ihn Amt und Würden.

Von nun an zog er bald ohne eigene Bleibe, meist mittellos wie ein ewiger Wanderer, ein heimatloser Mensch, über das Land von Freund zu Freund. Groß, hager, mit Bart und langem Hauthaar - wie Fedor Stepun ihn beschreibt - und so ehrfurchtgebietend, dass Landfrauen, die ihm begegnen, ihn für einen Priester halten und um seinen Segen bitten und deren Kinder fragen, ob er Gottvater sei. Ja, ein Priester war er dem Wesen nach, ebenso ein tief rationaler Denker und visionärer Prophet, ein begabter Dichter und forschender Wissenschaftler, aber oft auch ein ausgelassener Spaßvogel und lustiger Gesellschafter. Noch zweimal hatte er eine Sophien-Vision. Er glaubte nur an das göttliche Gute, das Böse als solches ab es für ihn nicht, bis ihm auch der Teufel leibhaftig erschien. Da erkannte er den Antichrist. 1888 legte er dem Papst Leo XIII. seine Schrift "die russische Idee" vor, in der er für die Vereinigung der orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche und ein Bündnis zwischen dem Papst und dem Zaren entrat. Der Papst fand "seine Idee sehr schön, aber unausführbar, wenn nicht ein Wunder geschähe".

Was ihm im Großen nicht gelingen konnte, vollzog Solowjoff für sich persönlich. Er, der noch zehn Jahre zuvor als überzeugter Slawophile in seinen berühmt gewordenen Vorlesungen "Über das Gottmenschentum" ganz anders dachte und schwere Anklagen gegen die römische Kirche erhob, trat am 18.Februar 1896 in sie über, heimlich, denn eine Konversion stand damals noch unter Strafe. Solowjoff verstand aber seinen Schritt nicht als eine Trennung von der Ostkirche. Für ihn waren eigentlich beide Kirchen immer eine Einheit. Aber viele seiner Freunde wandten sich von ihm ab. Erst Stepun brachte später Verständnis für ihn auf, als er seinen "Übertritt" einen "Hinzutritt" zur römischen Kirche nannte und meinte: Solowjoff wurde Katholik, ohne seine bisherige Konfession zu verleugnen.

In seinen letzten Lebensjahren schrieb der große Philosoph seine berühmten "Drei Gespräche" und " die Erzählung vom Antichrist ". Er hat aber auch zwei Jahre lang, von 1892 bis 1894 "Über den Sinn der Liebe geschrieben. Ihr gab er die Aufgabe, das Werk der Einigung der Menschheit zu vollbringen." Das klingt recht platonisch, er meint aber die körperlich-geschlechtliche Liebe. Da sich der menschliche Egoismus dem Wirken der Liebe entgegenstelle, müsse er durch die geschlechtliche Liebe überwunden werden, denn nur die unterschiedliche Körperlichkeit der Liebenden, die sich verbinden im Fleische, in der Seele und im Geist zu einem zweieinigen Wesen in der Erfüllung des Wortes "und die beiden werden ein Fleisch sein" vermöge die Menschheit wahrhaft zu vereinen. Stepun hatte auch hier Solowjow richtig versanden, als er dessen Vorstellung ergänzte mit den Worten:

"Dieser physiologische Liebesakt kann aber nur dann zu einem Gebet des Körpers werden, wenn er die geistig-seelische Vermählung zur Voraussetzung hat."

Diese war auch bei Solowjow nicht immer vorhanden. Aus Reue darüber übte er sich dann in Askese. Es war genau so bei vielen bedeutenden Individualitäten im Rußland des 19. Jahrhunderts Jahrhunderts, weit mehr aber noch in den exzessiven ersten zwanzig Jahren des letzten Jahrhunderts.

So sind wir in unseren Betrachtungen an eine Zäsur gekommen, an die Jahrhundertwende um das Jahr 1900. In Bezug auf Solowjoff sagte Rudolf Steiner, ausgehend davon, dass die lebendige Geistigkeit, durch die das Mysterium von Golgatha wirklich dem Menschen nahegebracht werden kann, dass jene Tatsache des "Christus in Jesus" heute weitgehend vergessen ist:

"Dabei ist es immer nur so, wie wenn in den Menschenseelen, in einzelnen Menschenseelen, zurückbliebe so ein einzelner Lichtblick. Wenn ein Strahl von dem, was noch immer in ihnen von diesem Astralischen lebt, mit diesem Ich sich vermischt dann bekommen sie solche Lichtblicke, und es gehört zu den eindrucksvollsten Erscheinungen des neueren Europa, wenn wir sehen, wie aus dem Osten herüberstrahlt eine gewaltige Mahnung in der Religionsphilosophie, in der ganz ... in östliche Schwüle getauchten Religionsphilosophie des Solowjow, wie das herüberstrahlt etwas von dem: es müsse durchdringen die irdische soziale Ordnung ein übersinnlich Geistiges. Wir sehen gewissermaßen, wie dieser Solowjow eine Art Christus-Staat träumt. Er kann diesen Christus-Staat träumen, weil letzte Reste eines das Ich durchstrahlenden astralischen subjektiven Erlebens in ihm sind." (GA 204; Vortrag Dornach, v. 17.04.1921)

Aber dazu sagte Rudolf Steiner weiter: "Aber alle, welche die Geisteswissenschaft nicht haben, bringen es nicht zu mehr als zu einem leeren Begriffsgefäß. So ist es auch bei dem tiefen Denker Solowjow. Wie Begriffsgefäße sind die Systeme seiner Philosophie, und hineingegossen werden muss das, wonach sie schon verlangen, wozu sie schon die Form prägen, was sie aber nicht haben, und was einzig und allein kommen kann aus der anthroposophischen Strömung. Sie wird jedes lebendige Wasser, die Mitteilungen über die Tatsachen der geistigen Welt, das Okkulte hineingießen in diese Gefäße. ... Wir können für diese Geister geradezu das Wort gebrauchen: Nach Anthroposophie lechzen sie." (GA 112; Vortrag v. 1.07.1909 in Kassel).

Wie sehr Solowjow nicht nur "nach Anthroposophie gelechzt", sondern sie auch erahnt hat, zeigt seine Mitteilung an die obskure Gestalt der Anna Nikolajewna Schmidt, die von 1851 bis 1905 lebte und die am 23. April 1900 an Solowjow schrieb, sie habe aus der geistigen Welt von höchster Stelle eine geheime Offenbarung empfangen, dass er eine Wiederverkörperung Christi sei, während sich in ihr die ewige Weisheit und die Weltseele reinkarniert habe. Der Philosoph antwortete ihr, er habe ihre "Bekenntnisse" verbrannt, weil er sie als "nichtige Asche" ansehe. Aber am 30. April, drei Monate vor seinem frühen Tod, suchte er sie doch in Vladimir auf, und hatte ein mehrstündiges Gespräch mit ihr. Danach drückte er ihr in einem Brief seine "gleichbleibende Sympathie für sie und ihre Gedanken" aus. Diesem Brief waren aber schon andere vorausgegangen, in denen es um die Ahnung Solowjows ging, die er nur ihr offenbarte. Er schrieb ihr:

"Mich bewegt seit längerem die Frage von großer Bedeutung, die dem Wesen des Christentums zugrunde liegt, aber noch nicht deutlich, weder im kirchlichen noch im allgemeinen philosophischen Bewusstsein gestellt wurde, obschon einzelne Theosophen, vor allem Jakob Böhme und seine Anhänger Gichtel, Pordage, Saint-Martin und Baader über diese Seite des Christentums reden. Ich bin der Meinung, dass in nächster Zukunft eine weitgehende Enthüllung einer Wahrheit bevorsteht."

Anna Schmidt berichtete später, Solowjow habe sich vor allem gefragt, ob es neue Verkörperungen des Logos und der Sophia und vor allem Christi geben werde. Neun Jahre später kündigte Rudolf Steiner das Wiedererscheinen Christi im Ätherischen an.

Wilde Jahre

Bevor wir uns nun der turbulenten Zeit der ersten zwanzig Jahre des 20. Jahrhunderts zuwenden, sei ausdrücklich betont, dass von den großen russischen Denkern des 19. Jahrhunderts nur ein Teil genannt werden konnte. Ihre Zahl ist so groß, dass, wenn man auch nur ihre Namen nennen würde, leicht ein Leser fragen könnte, warum dieser und nicht ein anderer auch erwähnt wurde. Nehmen wir die gewaltige geistige Ausstrahlungskraft in ihrer Komplexität ins Bewusstsein. Wie da vor dem Hintergrund umwälzender weltlicher Ereignisse, der Revolution von 1905, der zahlreichen Attentate, Morde und kleineren, fast nie abreißenden Aufstände, dem Kampf der Gesellschaft mit dem Staat und nicht zuletzt der eschatologischen Kriegsahnung, weltanschaulich gerungen und immer wieder um das Christentum und das wahre Wesen des Christus geistig-seelisch gekämpft wurde - das war schon eine bedeutende Veranlagung früherer Keime für die sechste nachatlantische Kulturepoche! Dazu gehören auch viele bedeutende hohe Krchenfürsten, Äbte und Mönche, die asketischen Einsiedler und die Starzen. Zu ihnen müssen aber auch die Ikonenmaler gezählt werden, jene, die noch der strengen Forderung folgten, in der Ikone nur darzustellen, was sich ihnen im Geist offenbart hatte. Solche Ikonen haben auch heute in der Sowjetunion noch geistige Ausstrahlungskraft.

Es seien auch noch die beiden großen russischen Dichter gewürdigt. Wenn Dostojewski in "Die Brüder Karamasoff" sagt, die Kirche sei noch nicht das Reich Gottes, aber dies werde sich einst in ihr offenbaren, " in einem neuen Christentum der Freiheit und Brüderlichkeit in Christo ", und dies werde " in dem apokalyptischen russischen Volk " geschehen, so weist er prophetisch auf das kommende Zeitalter der Bruderliebe hin.

Und Tolstoi? Gorki nannte ihn "Mensch der Menschheit", sah ihn nach einem Gespräch, in dem der Dichter ihn fragte, warum er nicht an Gott glaube und er geantwortet hatte, ihn fehle einfach der Glaube, "ein wenig ängstlich an" und dachte: "Dieser Mann ist gottähnlich". Und Lenin, der Tolstoi las, wann immer er, selten genug, Zeit dazu hatte, fragte Gorki 1945: "Wen kann man ihm in Europa gleichsetzen?" Und gab sich selbst die Antwort: "Niemandem".  Das ist die Wirkung über die Lebenszeit hinaus, eine Wirkung, die viele Jahrhunderte dauern wird. Tolstois mit seinem Herzen geschriebene "Auferstehung", jenes Werk, von dem Heinrich Mann sagt, "es kann nur mit Beben gelesen werden", wird auch heute noch in der Sowjetunion mit Beben gelesen.

Viele dieser Dichter und Denker haben Jahre ihres Lebens in Gefängniszellen oder in der Verbannung zubringen müssen. Nicht wenige von ihnen wurden unter dem Zarentum verfolgt und eingekerkert, und später vom neuen Regime, dem sie mit ihren Gedanken zum Sieg verholfen haben, ebenso behandelt oder mußten ihr Land verlassen. Einige der besten wurden später in den Gaskammern umgebracht.

Es ist nach der Jahrtausendwende viel darüber gerätselt worden, ob die von einigen russischen Philosophen, vor allem von Solowjow, herbeigewünschte Vereinigung der beiden Kirchen eine Auswirkung auf die politische Entwicklung in Russland hätte haben können. Die Frage muß verneint werden. Eine Kirche, die einen Tolstoi ausstößt, zeigt schon damit ihre Schwäche. Auch die Verbindung der Kirchen hätte absolut nichts auszurichten vermocht. Rudolf Steiner schreibt 1905 in einem Brief an Marie von Sivers:

"Der Katholizismus findet nicht mehr die Worte, um den Christus zu verkünden, weil er sich den modernen Denkformen entfremdet hat und dadurch eigentlich nunmehr von denen verstanden werden kann, die durch Unbildung nicht von diesen Denkformen berührt sind."

Die Frage wurde ohnehin bald illusorisch. Stattdessen erblühte nun ein neues Geistesleben. Wenn Rudolf Steiner schon bei Solowjow von einer "in östliche Schwüle getauchte Religionsphilosophie" sprach", so muß man für die ersten  zwei Jahrzehnte unserer Zeit oft geradezu von einer überhitzten Treibhausatmosphäre reden. Sie schwang hin und her zwischen Moskau, Leningrad und Europa, wohin man immer wieder erkenntnisdurstig aufbrach, um enttäuscht zurückzukehren. Schwerpunkt dieser oft heiter-oberflächlichen, geheimnisvoll-okkulten, aber auch magisch-düsteren und selbst sinnenfroh-erotischen Gruppen, Zirkel, Logen und Orden war ein Gemisch aus alter deutscher Mystik, Theosophie, russischer Philosophie und neu herandrängenden Ideen.

Kunde von Rudolf Steiner

In diese Kreise drang dann sehr schnell die Kunde vom Wirken Rudolf Steiners. Viele russische Menschen fuhren nach Berlin, um ihn zu hören, brachten erregende Eindrücke zurück und es kam zu theosophischen Gruppenbildungen, selbst kleine Zweige entstanden früh. Andere zogen weiter nach Paris, wieder andere fanden vorübergehend eine geistige Heimat auf dem Monte Veritá bei Askona. Eine zweite Welle zog dann später nach Dornach, baute am ersten Goetheanum mit und brachte viele Impulse nach Rußland zurück, die aber vor der Revolution nicht mehr zur Wirkung kommen konnten.

Rudolf Steiner hat sic im Wissen um die Aufgabe des Slawentums all dieser russischen Menschen besonders liebevoll angenommen. Der durch ihn zu vermittelnde Einschlag für die richtige Weiterentwicklung der Menschheit hätte wohl auch in Rußland zündend eingeschlagen, so er einmal auf russischem Boden hätte sprechen können, wären seine Worte einmal unmittelbar aus seinem Mund in die Äthersphäre über diesem weiten Zukunftsland eingeflossen. Aber das war nicht möglich.

Auch hier hat Rudolf Steiner, wie immer, erst auf eine Frage oder einen Wunsch reagiert. Die erste Bitte, in Russland einen Vortragszyklus zu halten, trug sehr wahrscheinlich ein früheres Mitglied des Berliner Zweiges, Frau Pisarew, 1905 als Leiterin des Rudolf-Steiner-Zweiges in Kaluga an ihn heran. Rudolf Steiner sagte zu, auf einem Gut in der Nähe der damals noch kleinen Stadt südlich von Moskau einen Zyklus zu halten. Die Reise kam nicht zustande; die Wellen der kurzen revolution waren noch nicht verebbt.

Soweit es sich feststellen ließ, war der Zweig in Kaluga der erste, der in Russland gegründet wurde. Frau Pisarew, die Tochter des bekannten Philosophen Dimitri Pisarew, bezeichnete die Menschen dort als besonders aufgeschlossen für geistige Fragen. Es mag da kurz auf eine Erzählung Tolstois hingewiesen sein, deren Begebenheit wie ein geheimer geistiger Faden in diese, im Zweiten Weltkrieg so schwer umkämpfte Stadt, hineinverwoben scheint. Unter dem Titel "Gespräche mit einem Vorübergehenden" schildert Tolstoi seine Begegnung mit einem alten Bauern, der ihn durch seine einfachen, aber wunderbar durchchristeten Worte zutiefst anrührt. Auf die Frage, von wo er komme, antwortete der Ale: "Kalugaer sind wir." Der Dichter bemerkt zu der Antwort: "Einen Russen gibt es fast nie; höchstens dass er, wenn er etwas Böses tut, einmal ich sagt. Doch ansonsten ist die Familie wir, das Artel wir, die Gemeinschaft wir." Tolstoi stieg "etwas in der Kehle hoch, ich konnte nicht mehr sprechen, verabschiedete mich von ihm mit einem freudigen, weichen Gefühl, schluckte die Tränen und ging fort." Und dann stieg es in ihm auf: "Wie soll man sich auch nicht freuen, wenn man inmitten eines solchen Volkes lebt? Wie soll man von einem solchen Volk nicht das Allerschönste und Allerbeste erwarten?"

Zu einer für den Winter 1912/13 geplanten Vortragsreise kam ebenfalls nicht, weil die Regierung dem Druck der Kirchenleitung nachgab und Rudolf Steiner das Visum verweigerte. Stattdessen wurde ein Zyklus im Frühjahr 1913 in Helsingfors gehalten, wo Rudolf Steiner auch bereits ein Jahr vorher gesprochen hatte. Beide Male wandte er sich bekanntlich in Ansprachen an die zahlreich erschienenen russischen Zuhörer. Er wies sie auf die Verantwortlichkeit gegenüber der geistigen Welt hin und betonte besonders - offenbar aus Einblicken in die damaligen euphorischen Gedankengänge in diesen Menschen:

"Wir dürfen Theosophie nicht treiben bloß zu unserer Freude, um uns irgendwie, weil wir dieses oder jenes persönliche Sehnsuchtsgefühl haben, an Theosophie zu befriedigen, sondern wir müssen fühlen, dass Theosophie etwas ist, was die gegenwärtige Menschheit braucht, wenn überhaupt die Menschheitsentwicklung weitergehen soll." (Helsingfors, 01.04.1912 in GA 158)

Noch deutlicher hat er am folgenden Tag im öffentlichen Vortrag betont:

"Scharlatanerie ist das, was sich so leicht hinstellen kann neben de gewissenhafte, vom Wahrheitsgeist diktierten Ergebnisse des Okkultismus oder der Initiation." (ebd., 12.04.1912.GA 136)

Rudolf Steiner hat auch auf anderen Wegen versucht, auf das russische Geistesleben Einfluss zu nehmen. Er veranlasste, dass Tolstoi, von dem er sagte, es gebe "bei ihm Seiten, wo in elementarer Weise gewisse große Erkenntnisse theosophischer Wahrheiten dargelegt sind", sein großer öffentlicher Vortrag "Theosophie und Tolstoi" vom 3.November 1904 in Berlin, in einer Übersetzung zugeleitet wurde. Bereits zwei Jahre vorher hatte er den im Namen des Giordano-Bruno-Bundes erlassenen Aufruf zur Verteidigung Tolstois gegen kirchliche Angriffe, de man auch in Deutschland gegen ihn richten wollte, mit unterzeichnet. Sein Name stand unter dem von Ernst Haeckel. An der Spitze des Aufrufs, der im Juni 1902 in der Zeitschrift "Der Freidenker" erschien, standen die Namen von Bruno Wille und Wilhelm Bölsche.

Mystisches Kaleidoskop

Aus dem Kaleidoskop der schon angedeuteten "Wilden Jahre" seien hier nur von der mehrfachen Spiegelung der bunten Bilder einige wenige geschildert,  zeitlich zwanglos und ohne Wertung. Man darf jedoch nicht vergessen, dass hier etwas Neues in den geistigen Geburtswehen lag; dass hier gesucht und gerungen wurde, mal mit guten, mal mit negativen Begleiterscheinungen. Wirkung kann es nur für eine ferne Zukunft haben. Margarita Woloschin berichtet in ihrem Erinnerungsbuch "Die grüne Schlange", sie habe Rudolf Steiner einmal den Brief eines Bekannten vorgelesen, in dem dieser schrieb, er habe das Vertrauen, dass die "Jungfrau des Regenbogens", ein von Solowjow stammendes Bildsymbol, Russland vor allem ihm Fremden, nämlich der Anthroposophie, beschützen werde. "Rudolf Steiner schaute vor sich hin - nie werde ich den erschütternden Ernst dieses Blickes vergessen, auch nicht den Klang seiner Stimme, als er sagte: `Möge diese Jungfrau Russland vor dem Furchtbaren, was auf es zukommt, beschützen. Denn es ballt sich Furchtbares über Russland zusammen.´ Das war Ende des Jahres 1911."

dass sie für die Abwehr dessen, was auf ihr Land und Europa zuzukommen drohte, zu schwach waren, ahnten wohl viele, die da ganze Nächte hindurch diskutierten und am Tag kaum zum Schlafen kamen, weil sie nachdachten darüber, was sie in der kommenden Nacht vorbringen könnten. So auch in der "Religiös-philosophischen Wladimir-Solowjoff-Gesellschaft". Sie hatte eine große Zahl von Mitgliedern und deshalb einen regelrechten Vorstand. Ihr Vorsitzender war Grigori Alexejewitsch Ratschinski, ein sehr wohlhabender, aber im Vergleich zu den Geistesgrößen wie Fürst Eugen Trubetzkoj, Bulgakow und Berdjajew, die neben ihm am Vorstandstisch saßen, doch eher bescheidener Denker. Man kann sich an den Gegensätzlichkeiten der genannten drei großen Philosophen vorstellen, wie erregt die Diskussionen waren. Die Grundthese von Marx, dass das materielle Sein das Bewußtsein bestimmt, wurde von ihnen zumindest so weit überwunden, dass sie gemäß der Theorie von Georg Lukacz die Wirklichkeit sich vermitteln sahen durch Denken, Dichtung und Kunst.